Christoph Eschenbach im Gespräch

mit Thomas Meyer am 4. Februar 2015 in Bamberg

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Thomas Meyer: Christoph Eschenbach, wenn ich Ihre Musikerlaufbahn knapp zusammenzufassen versuche, dann wäre da zuerst ein junger, brillanter und schon erfolgreicher Pianist, der diesen Weg aber – für viele überraschend – verlässt, um Dirigent zu werden, was ihn wiederum um die ganze Welt führt. Stimmt diese Kürzestbiographie so für Sie?

Christoph Eschenbach: Ja, sicherlich. Der Hintergrund dazu ist allerdings vielschichtiger: Als erstes Instrument habe ich natürlich Klavier studiert. Als ich dann mit elf zum ersten Mal ein großes Sinfonieorchester, die Berliner Philharmoniker mit Wilhelm Furtwängler, hörte, war ich davon ganz durcheinandergebracht und hingerissen und sagte: „Ich will Dirigent werden.“ Da meinte meine Adoptivmutter: „Wenn du Dirigent werden möchtest, musst du mindestens ein Orchesterinstrument lernen.“ Und da habe ich die Geige vorgezogen, weil mein Adoptivvater Amateurgeiger und -bratscher war und in meinem Elternhause dauernd Kammermusik gemacht wurde. Nach einer Woche bereits hatte ich Geigenunterricht; das war sehr wichtig für meine spätere Orchesterarbeit. An der Hochschule habe ich weiter Geige studiert, bis es zuviel wurde zusammen mit dem Dirigierstudium, das ich nach dem Abitur mit achtzehn angefangen hatte. Dann kamen der ARD- und der Clara Haskil-Preis in Luzern, Preise, die mich in eine internationale Pianistenkarriere hineinkatapultiert haben. So habe ich mich nach dem Dirigierexamen erst mal dem Klavier gewidmet, ganze sieben Jahre. In dieser Zeit habe ich die Dirigenten, mit denen ich arbeitete, sehr genau beobachtet. Ich reiste deshalb immer früh an, zwei, drei Tage vorher möglichst, um an den Proben teilzunehmen, die der Dirigent für das sinfonische Repertoire vorgesehen hatte. Dabei habe ich sehr sehr viel gelernt; George Szell und Herbert von Karajan wurden damals meine grössten Mentoren. Eines Tages entschloss ich mich, das Dirigieren wieder aufzunehmen, diesen Wunsch, den ich immer in meinem Kopf behalten hatte.

Das war ja auch ein grundlegender Wandel des Musikmachens. Sie mussten sich musikalisch anders ausdrücken…

C. Eschenbach: 1972 machte ich mein Dirigierdebüt, einfach um auszuprobieren, wie es mit einem professionellen Orchester ging. Musikalisch war ich mir sicher, aber natürlich gehört zum Dirigieren mehr, Körpersprache, verbales Kommunizieren etc. Und es ging. Ich musste sehr viel lernen damals, abgesehen vom großen Repertoire, aber ich hatte Vertrauen und ging diesen Weg weiter.

Als Dirigent bedarf es einer bestimmten Kommunikationsfähigkeit, die man sich aneignen muss.

C. Eschenbach: Und gerade daran war ich hochinteressiert, besonders nach diesen sieben einsamen Klavierjahren. Diese Art des Lebens und des Reisens musste man ja lernen, wo man jeden Abend in einem anderen Hotel sitzt und den Tapetenwechsel manchmal eben nicht verträgt. In den ersten Jahren wohnt man auch nicht gerade in den besten Hotels und hat nicht das beste Ambiente um sich, aber ich habe das gelernt, und nach ein paar Jahren, okay, war es nicht mehr schlimm. Ich habe die Prämisse sogar umgedreht und mir gesagt: Reg dich nicht auf über Mängel in diesem Reiseleben, sondern nimm es als Faktum, wo du neue Menschen kennenlernst, neue Mentalitäten, neue Länder, neue Städte, neue Museen usw. Ich habe es in Interessehunger umgedreht. Und das ging sehr gut.

Es wurde geradezu zu einer Bildungsreise…

C. Eschenbach: … einer Bildungsreise, ja, einer Lebensbildungsreise.

[…]

Wenn ein Dirigent auch mit seinen Orchestermusikern Kammermusik macht, lernt er sie auf einer ganz anderen Ebene kennen.

C. Eschenbach: Genau, man ist nicht nur jemand, der von oben herab etwas sagt und dem die Musiker folgen, sondern man wird primus inter pares am Klavier. Und gleichzeitig lernt der Dirigent eben auch die Psyche der Musiker näher kennen. Er bespricht sich intensiv mit ihnen, geht mit ihnen vielleicht auch einmal nach der Probe aus, es bildet sich also ein engeres Verhältnis. Mein wunderbarer Kollege Barenboim macht das auch, aber es sind halt wenige.

Hatten Sie dafür Vorbilder?

C. Eschenbach: Von George Szell gibt es sogar Aufnahmen von Mozart- Quartetten mit seinen Musikern aus dem Cleveland Orchestra. Er hat mit ihnen auch Klavierkonzerte aufgeführt. Karajan weniger; doch immerhin hat er Klavier gespielt und mit mir und Justus Frantz das Mozart-Konzert für drei Klaviere öfters gespielt, auch auf Tournee. Das machte ihm sehr Spass. Furtwängler spielte auch. Seine Frau Elisabeth, die übrigens erst vor kurzem gestorben ist, erzählte mir, er habe immer Chopin auf dem Notenpult stehen gehabt. Furtwängler-Chopin, diese Mischung denkt man sich nicht. Ich kann sie mir sehr gut vorstellen, denn für mich ist Chopin auch einer der wunderbarsten Komponisten – neben Bach.

Bilden diese drei Dirigenten, die Sie eben erwähnt haben, für Sie eine musikalische Tradition, an der Sie sich orientieren?

C. Eschenbach: Furtwängler habe ich ein paar Mal gesehen, da war ich noch ein Kind, elf, zwölf. Ich war dreizehn, als er starb. Näher kennengelernt aber habe ich ihn eigentlich nie. Karajan und Szell haben mich zu Proben eingeladen, wobei es damals sehr ungewöhnlich war, dass junge Leute in Proben saßen. Ich durfte danach mit ihnen über die Proben sprechen und Fragen stellen und sie haben immer Zeit für mich gehabt. Szell zum Beispiel hat mit mir mein gesamtes Klavierrepertoire an zwei Klavieren durchgearbeitet. Zwei Jahre lang, an verschiedenen Orten. Er hat immer den Orchesterpart gespielt, übrigens auswendig und hervorragend. Mindestens zwölf Mozartkonzerte habe ich ihm vorgespielt, alle fünf Beethoven, Schumann, die beiden Brahms, das Zweite von Bartók.…

Insofern waren Karajan und Szell die beiden, von denen ich am meisten gelernt habe, indem ich sie in Proben beobachtet und mit ihnen viel gesprochen habe. Das war wahnsinnig wichtig für mich, denn es waren zwei Extreme. Szell war eine ganz andere Art Musiker als Karajan. Beide gingen von derselben Zelle der Musikerkenntnis aus und an die Musik heran, aber die Praxis ging anders vor sich. Szell war ein Sculpteur, ein Zeichner, ein Formulierer von Phrasen, und mit dem Wort Formulierer sage ich auch schon: ein Meister der musikalischen Diktion. Was Harnoncourt später in seinem Buch über die Klangrede sehr gut geäußert hat, habe ich zehn Jahr vorher mit fast ähnlichen Worten von Szell schon gehört. Karajan hingegen schöpfte in der Musik Farben aus, Übergänge, Subtilitäten, die in Farbvaleurs lagen. Das nun war auf einen Nenner zusammenzubringen, dem ich dienen konnte, ohne die beiden je zu kopieren, was immer falsch für einen jungen Dirigenten ist.

Sie haben sich in ihren jungen Jahren als Beobchtender und Lernender begriffen. Wenn ich Ihre Homepage anschaue, zieht sich das aber weiter. An verschiedenen Stationen Ihrer Tätigkeit haben Sie stets Neues erfahren: Da war der Aufbau eines Orchesters, die Vermittlung Neuer Musik, die Organisation eines ganzen Musiklebens. Das sind Eigenschaften, die über das bloße Gestalten von Musik hinausgehen.

C. Eschenbach: Meine Maxime ist, dass man nie auslernt. Und das macht das Leben interessant. Ich bin voller Neugier auf alles, was ich noch nicht gesehen, was ich noch nicht gelernt und erfahren habe.

Eine zentrale Erfahrung war offenbar jene mit dem Houston Symphony Orchestra. Was war das besondere an dieser Situation?

C. Eschenbach: Houston war das erste amerikanische Orchester, das ich übernahm, und zwar in einer miserablen Situation, denn es war fast bankrott. Der finanzielle Fonds, das sogenannte Endowment, war wegen der großen Ölkrise im Ölstaat Texas auf quasi Null gesunken. Und so wurde ich gleich mit der Hauptarbeit konfrontiert, die ein amerikanischer Musikdirektor machen muss, nämlich mit dem Fundraising. Ich wusste damals noch nicht, wie man das genau macht, habe mich aber hineingearbeitet. So musste ich an unzähligen Fundraising-Diners teilnehmen, aber dieses Müssen verwandelte sich sehr schnell in ein Wollen. Denn ich wollte das Orchester wieder auf Trab bringen und Geld beschaffen, damit es zuerst überleben und auf sicherer Basis immer besser leben konnte. Das ist mir auch gelungen. Es wurde mit sehr grossem Wohlwollen gesehen. Der zweite Punkt war, dass ich ein Orchester formen konnte. Ich musste mit ziemlich starker Hand durchgreifen und Musiker auswechseln, die nicht der Qualität genügten, die ich mir vorstellte. Das waren meine großen Aufgaben dort. Es war sehr anstrengend, aber es gelang so gut, dass nach vier fünf Jahren, als wir unsere erste Europatournee machten, in der WELT vom „Wunder Houston“ geschrieben wurde. Das war vielleicht etwas übertrieben, aber tatsächlich war Houston in die erste Riege der amerikanischen Orchester gerutscht. Und so ging es weiter. Es war eine sehr gute Zeit für mich, wo ich in jeder Beziehung sehr viel sehr schnell lernen musste, dann aber auch die Früchte sah, die diese Arbeit trug.

Sie sagten, Sie mussten mit starker Hand arbeiten…. Fiel Ihnen das leicht?

C. Eschenbach: Es gehört auch zum Dirigentenberuf. Er besteht aus so vielen verschiedenen Berufen. Sie müssen Vater sein, manchmal auch strenger, Sie müssen Diplomat sein, Sie müssen Arzt sein. Es passierte oft, dass Leute mit Wehwehchen zu mir kamen und bei mir Rat holten. Medizin ist nämlich ein Hobby von mir, ebenso Psychologie. Ich habe immerhin bändeweise C. G. Jung studiert. Sie müssen als Dirigent aber auch Politiker und Wirtschaftsexperte sein, um dem Orchester zu helfen, dazu Kommunikator, hin zum Orchester, zum Publikum, zu bestimmten Publikumsschichten oder zu Geldgebern.

Sie haben dort auch ein Kammerensemble gegründet, mit dem Sie auf Tournee gingen.

C. Eschenbach: Die Houston Symphony Chamber Players, mit denen ich um die Welt gereist bin, nach Japan, Amerika, Europa. Wir haben auch sehr schöne Schallplatten aufgenommen, zum Beispiel zwei mit Musik der Zweiten Wiener Schule, was zu jener Zeit sehr ungewöhnlich war und heute noch ungewöhnlicher ist. Da war ich dann eben auch wieder sehr fleißig am Klavier tätig, habe Solostücke wie die Berg-Sonate oder die Webern-Variationen eingespielt, vor allem aber Kammermusik wie die Cello- und Violinstücke und das Konzert von Webern etwa oder die Klarinettenstücke von Berg.

Sie haben mit sehr vielen Orchestern rund um die Welt gearbeitet. Kann man da immer derselbe sein?

C. Eschenbach: Ja, unbedingt. Der Dirigent ist immer die Konstante. Allerdings finden Sie in jedem Orchester andere Gegebenheiten. Nach Houston übernahm ich das NDR Orchester in Hamburg, ein Radioorchester mit völlig anderen Strukturen. Das hat Vorteile: Es ist öffentlich subventioniert, und man kann sich viel mehr Repertoireextravanganzen leisten. So etwas wie das Millenniumskonzert „Sieben Horizonte“, bei dem wir sieben Uraufführungen an einem Tag gemacht haben, geht in Amerika nicht. Und es ist das Schöne, dass ich diese beiden Möglichkeiten hatte, zwischen Houston und Philadelphia auch das Orchestre de Paris und das NDR Orchester als europäische Orchester zu leiten. Insofern ist die Spannweite der Möglichkeiten sehr weit in meinem Dirigentenleben.

Welche Rolle spielt die Neue Musik in Ihrem Repertoire? Sie haben früh das Klavierkonzert von Günter Bialas gespielt …

C. Eschenbach: … und das Zweite von Hans Werner Henze. Beide, für mich geschrieben, habe ich uraufgeführt – letzteres ist ein sehr schweres, kompliziertes langes Stück, das ich während vier, fünf Jahren immer wieder gespielt habe. Daneben habe ich auch sehr oft die Henze-Klaviersonate gespielt, Takemitsu habe ich in Rezitalprogramme integriert. Schon früh also habe ich mit der Neuen Musik angefangen. Auch als Dirigent: Wir haben in Houston stets einen Composer in Residence gehabt und jedes Jahr ein oder zwei Stücke von ihm uraufgeführt sowie andere, die er vorschlug. In Paris habe ich viel zeitgenössische französische Musik dirigiert: Olivier Messiaen, Henri Dutilleux, Pascal Dusapin, Marc-André Dalbavie …

Außerdem verstehen Sie sich ganz zentral auch als Mentor junger Musiker…

C. Eschenbach: Auch darin habe ich die beiden grossen Vorbilder Karajan und Szell. Zum Beispiel: 1986 hatte ich nach fünf Jahren die Chefdirigentenstelle beim Tonhalle-Orchester Zürich aufgegeben. Das war mein Wunsch, weil mir die Strukturen zu eng und auch zu kompliziert waren, das Orchester bestand eigentlich aus zwei Orchestern, einer Opern- und einer Konzertformation, die sich dann getrennt haben. Beide Orchester waren zu klein und mussten immer mit Zuzügern arbeiten. Das hat mich enerviert, und deshalb habe ich Zürich verlassen. Damals ging ich zu Karajan und fragte ihn um Rat. Er sagte: „Sie haben einen Fehler gemacht, dass Sie von Zürich weggegangen sind. Das ist nicht gut. Sie müssen ein Orchester haben!“ Ich meinte: „Ach nein, ich bin eigentlich ganz froh, für ein paar Jahre frei zu sein und wählen zu können, mit welchem Orchester ich arbeiten will.“ „Nein“, erwiderte er, „Sie brauchen ein ständiges Orchester, ich sehe in Ihnen jemanden, der formt und der ein Erzieher ist. Sie brauchen ein Orchester, das Sie aufbauen und das Sie besser machen.“ Das habe ich irgendwo doch sehr ernst genommen, und nach zwei Jahren habe ich dann Houston übernommen. Da hat er mir handschriftlich einen Glückwunsch geschrieben. Das war wie bei Szell dieses mentorhafte, beratende Element, das ich mir sehr zu Herzen nahm, weil ich mir sagte: „Sowas ist selten, sowas sollte viel mehr sein.“ Bald kamen die ersten jungen Künstler, die ich beriet und förderte, etwa indem ich ihnen Agenten besorgte und sie weiterempfahl: Zum Beispiel Renée Fleming, die ganz unbekannt war, als sie an der Houston Grand Opera als Gräfin im Figaro einsprang. Ich empfahl sie dann zum Vorsingen an die Met, wo sie natürlich erfolgreich war. Damit begann ihre Karriere. Sehr viele Stücke habe ich zum ersten Mal eigens für sie aufgeführt, das Deutsche Requiem, die Missa Solemnis, Exultate jubilate, die Vier letzten Lieder – alles Premieren für sie. Es war sehr wichtig, dass sie da eine Beratung hatte. Zur gleichen Zeit kam Tzimon Barto aufs Podest, der mich faszinierte und immer noch fasziniert. Bei ihm habe ich dasselbe gemacht, ihn an Agenten empfohlen, Konzerte mit ihm gespielt usw. Danach folgte Lang Lang, der immer noch zu mir kommt und Unterricht haben will, und einige weitere junge, Geiger, Cellisten, Pianisten, nicht zu viele, sondern ganz gezielt jene, von denen ich glaube, dass sie ganz Besonderes in der Musik zu sagen haben. Keine Schnell- und Lautspieler – technisch sind sie ja alle fantastisch – sondern solche, die aus der Tiefe schöpfen und darin eben die Musik erkennen. Das und mehr noch aus ihrer eigenen Tiefe weiter herauszufördern, das interessiert mich sehr.

[…]

In jenem Buch, das der Verleger Wolfgang Erk 1990 zu Ihrem 50. Geburtstag im Radius-Verlag herausgegeben hat…

C. Eschenbach: … das ist lange her …

…erzählt Richard Bächi, der damalige Betriebsdirektor des Tonhalle-Orchesters Zürich, eine berührende Geschichte: Bei einer Japantournee mit dem Orchester seien Sie eines Morgens unauffindbar, am Abend aber für das Konzert wieder zur Stelle gewesen. Sie hätten sich nicht dazu äussern wollen, aber von Ihren japanischen Freunden erfuhr Bächi, dass Sie eine lange Autofahrt auf sich genommen hätten, um in einer Schule für geistig und körperlich behinderte Kinder Mozart zu spielen…

C. Eschenbach: Ich bin damals, als ich noch öfter nach Japan ging, bei jeder Tournee in diese Schule für behinderte Kinder gefahren, die eine ganz hervorragende Frau erfunden und mit ihrem eigenen Geld aufgebaut hat: Mariko Miyagi, eine erfolgreiche Filmschauspielerin, die ihren Beruf aufgegeben hat, um sich diesen Kindern zu widmen. Sie hat ihnen zum Beispiel das Malen beigebracht, Ausstellungen gemacht und wunderschöne Bücher mit Malereien herausgegeben, hie und da auch Gedichte, obwohl die Kinder kaum schreiben konnten. Ich habe dort ein Rezital gegeben; die Kinder weinten, weil sie die Musik berührte; mehrere von ihnen haben die Fingerarbeit bewundert, sind dann an eine Schreibmaschine gegangen und haben versucht zu tippen, was mit ihren spastischen Händen sehr, sehr schwierig war, aber es ist ihnen irgendwie doch mithilfe dieser Frau und ihren Helferinnen gelungen, und es kamen wunderschöne Gedichte dabei heraus, inspiriert von der Musik. Das hat mich tief berührt. Ich habe ein bisschen die Verbindung verloren, weil ich so lange nicht mehr in Japan war, aber ich werde sie bestimmt aufnehmen, wenn ich diesen Herbst wieder hinübergehe ...

Musik kann etwas Tiefes bei Menschen auslösen.

C. Eschenbach: Aber natürlich. Es ist so traurig, dass wir so viele Kriege in dieser Welt haben. Überall kriselt es, überall kriegt es, es wird immer schlimmer, siehe diese furchtbaren Ereignisse in Paris Anfang des Jahres. Weltweit ist kein Frieden in Sicht, und da könnte die Musik sehr viel bieten. Daniel Barenboim versucht es ja, die Palästinenser und die Israelis zusammenzubringen, aber das scheint kaum zu gelingen, wie man in der Politik sieht. Es ist traurig, dass sich die Politik dem Einfluss der Musik sperrt. Sie könnte die Musik viel stärker benutzen, um mehr Frieden in der Welt zu schaffen. Jeder Politiker und jeder Terrorist sollte eine Stunde Bach hören – dann sähe die Wdelt zumindest etwas anders aus. Die Musik bietet so viele Komponenten, die dazu beitragen könnten.

Ich denke da auch an Ihre eigene Biographie. Sie wurden ja in den Zweiten Weltkrieg hineingeboren, mussten flüchten und fanden in der Musik etwas, das Sie befreite …

C. Eschenbach: Die Musik hat mir sozusagen mein Leben gegeben. Ich war ja am Dahinschwinden. Sie gab mir die Möglichkeit, dass ich mich ausdrücken konnte. So wurden die Schleusen geöffnet, die mich durch die schlimmen Eindrücke in meinem Innern völlig verschlossen hatten. Es sind aber Millionen, Millionen, die leiden und denen man das Leiden nehmen sollte. Es ist schwierig…

Hätte es auch etwas anderes sein können als Musik?

C. Eschenbach: Musik ist die direkteste Ausdrucksweise. Ich konnte ja noch nicht schreiben. Und zum Malen hatte ich keine Stifte. Die Musik berührte mich physisch. Als meine Mutter spielte, sang und unterrichtete, hörte ich immer diese Musik, die auf mich eindrang wie ein Balsam.

Man sagt ja, dass durch die späteren Wandel im Leben, etwa durch das Schreibenlernen, frühe Erinnerungen verlorengehen. Bis wie weit zurück erinnern Sie sich?

C. Eschenbach: Es ist noch sehr, sehr präsent. Ich erinnere mich sehr früh, bis an mein drittes, zweites Lebensjahr – und natürlich auch an die ersten Momente von Musik. Ich wuchs ja bei meiner Großmutter auf. Meine Mutter starb bei meiner Geburt und ihr jüngerer Bruder, der Geige spielte, war mit vierzehn ertrunken. Meine Großmutter machte daraufhin gerade das Falsche: Sie hat sich der Musik gesperrt. Wenn am Radio Musik kam, wurde abgeschaltet. Auf dem Flügel meiner Mutter, der in der Wohnung stand, habe ich als Dreijähriger so ein bisschen rumgetimpert, aber meine Grossmutter wollte nicht, dass ich das ausbaute. Erst bei meiner Adoptivmutter eigentlich hörte ich mit sechs Jahren zum ersten Mal Musik, und das hat mich überwältigt. Das war das Schlüsselerlebnis meines Lebens.

Sie haben damals offenbar nicht gesprochen.

C. Eschenbach: Ich war total zu von den Eindrücken. Meine Großmutter starb ebenfalls auf der Flucht und meine Adoptivmutter, eine Cousine meiner Mutter, fand mich dann unter sehr schwierigen Umständen in einem Flüchtlingslager, an meiner Seite waren während eines Monats sechzig Menschen gestorben. Ich war der letzte Überlebende. Das verschließt einen, da redet man nicht mehr. Meine Adoptivmutter war ganz erschrocken darüber. Sie hat mich Sachen gefragt und ich habe nicht geantwortet. Mit der Musik aber kam die Sprache wieder. Es dauerte lange, aber sie kam.

Von diesem Ausgangspunkt aus bedeutet Musik wohl noch etwas anderes.

C. Eschenbach: Ja. Und dadurch wird auch der Zugang zur Musik ein sehr persönlicher. Wenn ich heute Musik mache, ist es immer ein sehr persönlicher Ausdruck. Es wird mir oft angekreidet, dass ich Brahms- oder Beethoven-Sinfonien oder was auch immer nicht wie andere dirigiere, sondern neue Sachen herausfinde und auch zeige. Manche Kritiker schätzen das nicht, das Publikum meistens. Das Publikum geht eigentlich immer mit mir. Deshalb bin ich nicht nur geehrt, sondern auch sehr glücklich, dass das Kuratorium des Ernst von Siemens Musikpreises mich dazu erkoren hat, diesen Preis zu bekommen.

Nur am Rande haben wir jetzt über Gesang und über Opern gesprochen, von denen sie ja auch viele dirigiert haben. Dabei liegen da zum Teil ebenfalls Ihre Wurzeln. Ihre Adoptivmutter Wallydore Eschenbach war Pianistin und Sängerin…

C. Eschenbach: Der Gesang als menschlicher Ausdruck ist der musikalisch direkteste. Das habe ich eben auch bei meiner Adoptivmutter gehört. Ich habe oft beim Unterricht zugehört, was sie sagte. Sie war eine hervorragende Lehrerin in der Art, wie sie Sänger profilierte. Die Oper war ein ganz wichtiger Punkt in meiner Studienzeit, Wilhelm Brückner-Rüggeberg in Hamburg war ein großartiger Lehrer, ein sehr typischer Operndirigent. Mit ihm haben wir fast nur Opern studiert: Von Mozart über Lortzing, Wagner, Verdi, Puccini, alles, was es an Literatur gab, bis zu Wozzeck. Ja, der Gesang ist schon eine eigene Welt. Ich sage ja auch zu jedem jungen Pianisten, er soll auf dem Klavier singen.

Und dazu kam die prägende Erfahrung mit Fischer-Dieskau …

C. Eschenbach: …die das absolut ergänzt hat. Das Liedrepertoire war eine Spezialität meiner Adoptivmutter. Das Liedrepertoire zu kennen von Schubert, Schumann, Brahms und Wolf, eröffnet einem sehr viel auch in der sinfonischen Literatur. Wer die gegen sechshundert Lieder von Schubert nicht kennt (und ich kenne sie fast alle) oder die etwa dreihundert von Schumann, kann eigentlich nicht wirklich eine Schumann-Sinfonie dirigieren. Das kommt mir sehr zugute, auch das Klavierwerk von Schumann und die vierhändigen Stücke von Schubert. Das sind ja oft verkappte Sinfonien. Es ist schon sehr wichtig in meinem Leben gewesen, das alles zu studieren und zu spielen.

Wohin geht die Reise weiter? Was gibt es als nächstes zu entdecken?

C. Eschenbach: Viel, wenn man denkt: Das Leben ist ja schon sehr lang gewesen, aber es gibt noch viel Literatur zu erfahren. Zum Beispiel bin ich spät zu Schostakowitsch gekommen und jetzt davon fasziniert. Ich kenne seine Sinfonien alle, habe aber nur fünf dirigiert. Zehn fehlen mir noch. Bei Sibelius ist es ähnlich. Vieles von Britten habe ich nicht dirigiert; jetzt steht auch da bald eine Oper an. Dann will ich immer wieder Neue Musik aufführen. Es gibt großartige Komponisten in der globalen Szene. Allein in Deutschland Komponisten wie Reimann, Rihm und Pintscher, um nur die vielleicht bekanntesten zu nennen – die wiederum hervorragende Schüler haben wie Jörg Widmann. Dann die Franzosen wie Dalbavie und Dusapin und die leider verstorbenen Messiaen und Dutilleux. Oder die Engländer Thomas Adès und James Macmillan. In den USA Augusta Read Thomas, die unterschätzt wird, oder Sean Shepherd – wirklich großartige Leute, die man aufführen müsste – um nur einige zu nennen. Außerdem gibt es eine fleissige Riege von ganz Jungen.

Wenn Sie auf die heutige Musikszene schauen, werden Sie da optimistisch oder pessimistisch?

C. Eschenbach: Optimistisch. Die jungen Musiker und die jungen Komponisten sind mir eine Garantie, dass die Totsagung der sogenannt klassischen Musik ein völliger Irrtum ist. Es gibt soviele junge Begabungen wie nie zuvor, und sie werden die Musik am Leben erhalten, sie retten!

Daran zweifeln Sie nicht?

C. Eschenbach: Nein. Die Musik ist zu stark. Sie lässt sich einfach nicht totsagen und totmachen.