Fotos: Rui Camilo

 

Furchtlosigkeit und Neugier

von Markus Böggemann

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Wie furchtlos muss ein Komponist sein, um für ein Instrument zu schreiben, dem, bevor es im 19. Jahrhundert scheinbar endgültig in der Versenkung verschwand, ein barbarischer Klang, ein „kaltes schauerliches Geheul“ nachgesagt wurde und das als „ungeheuerliches Denkzeichen des Unverstandes und der Geschmacks- und Gefühls-Roheit“, nicht aber als ernstzunehmendes Kunstmittel qualifiziert wurde? Welche Gründe auch immer Hector Berlioz für sein vernichtendes Urteil über das Serpent gehabt haben mag, mit Benjamin Attahir Konzert für Serpent und Orchester Adh Dhohr (2017) sind sie widerlegt. Und dies um so glänzender, als der Komponist keineswegs einer Klangästhetik folgt, die aus Unzulänglichkeiten und Grenzen des Instruments Kapital schlägt. Es darf vielmehr mit warmer Stimme singen, artikuliert hervortreten oder in subtilen Farbmischungen mit dem Orchester verschmelzen. Zwar kennt und nutzt Benjamin Attahir alle spieltechnischen Möglichkeiten der zeitgenössischen Musik, er stellt sie aber in den Dienst eines Klangideals, dessen Träger das sinfonische Orchester ist, mit seinen unendlichen Farben zwischen fragiler Einzelstimme und sattem Tutti. Eine solche kompositorische Neugier bedarf der engen Zusammenarbeit mit Interpretinnen und Interpreten, und so überrascht es nicht, dass nicht nur Adh Dhohr, sondern auch andere Werke von Benjamin Attahir den Musikern und Ensembles auf den Leib geschrieben werden. Dazu kommt bei dem Komponisten, der auch ausgebildeter Geiger ist, ein durchdringender Sinn für die Spezifik der Instrumente, für ihre klanglichen und spieltechnischen „sweet spots“, für die Idiomatik ihrer Figurationen und ihres Gestenrepertoires. Die Musik erhält dadurch eine geradezu haptische Qualität, die Attahir auch dramaturgisch zu nutzen weiß. Man höre nur sein Al Asr für Streichquartett (2017), ein 25-minütiges Fest der Streicherfarben und Quartetttexturen, dessen energiegeladene Ausbrüche immer wieder mit ätherischen Klangbildern wie Luftspiegelungen kontrastieren.

Benjamin Attahirs häufige Arbeit für klassische Ensembles und Besetzungen prädestiniert ihn auch zu einer so heiklen Aufgabe wie dem Ergänzen eines spätromantischen Repertoirestücks über zeitliche und stilistische Grenzen hinweg. Sein Nach(t)spiel (2016), ein hinzukomponierter Finalsatz für das Konzertstück op. 84 für Violine und Orchester von Max Bruch, nutzt ausgiebig das motivische und figurative Material des älteren Werks. Zugleich bindet es dieses in einen Klangraum ganz eigener Art ein. Wo beide zusammentreffen, entsteht ein faszinierender Übergang, eine Schwelle, die zu fluktuieren und in das Bruchsche Konzertstück zurückzuwirken scheint – Grenzen werden porös, Kategorien wie „Neu“ und „Alt“ lösen sich auf, das Hören weitet sich. Die Kraft von Benjamin Attahirs Musik zeigt sich auch darin, dass durch sie Bekanntes in neuer Beleuchtung ersteht.