Fotos: Rui Camilo

 

Verlieren Erinnern Wiederfinden

von Markus Böggemann

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Ein leise und schnell repetiertes c’ in scharfem Staccato. Zwei kurze Auslenkungen nach oben und unten. Das Aufweichen des Klangs im Pedal und eine Generalpause. – Was wie ein ungewolltes Haiku anmutet, ist die Beschreibung des vierten Stücks, Line II, aus Naomi Pinnocks Lines and Spaces (2015) für Klavier. Seine geradezu konzeptuell anmutende Kargheit ist Programm: Alle sechs Miniaturen des Zyklus orientieren sich an der minimalistischen Malerei Agnes Martins, ihren vor allem aus Linien und Zwischenräumen bestehenden Bildkompositionen. Deren Transformation in Musik erfolgt quasi eidetisch in unmittelbarer Nachahmung der gemalten Gestalt oder, im Fall der Sätze Space I-III, als genuin musikalisches Entwerfen von Klang- und Klangzwischenräumen: Dreitongruppen werden hier zu lichten Akkorden auseinandergezogen, in schwerelosem Metrum, durchgehend leise und immer wieder unterbrochen von ausgiebigen Pausen. Eine gerichtete Entwicklung zwingt diese Musik dem Ohr nicht auf, und doch ist sie alles andere als statisch. Sie kommuniziert mit ihren Hörer:innen und lädt dazu ein, sich ihren kleinsten Details zu öffnen. Dabei wählt Naomi Pinnock für Ihre Werke oft Bildwelten von Verlust und Rückschau. So verbindet sie Beneath (2021) für Posaune solo mit Gedanken an die Spuren, die von Verlorenem zeugen und gleichsam noch in Umrissen seine ehemalige Existenz bewahren. In Beneath ist es eine sehr hohe Flötenmelodie aus Pinnocks Music for Europe (2016), die von der Posaune erinnert und aus dem Wust des Vergessenen zurückgeholt wird. Das Instrument gleicht hier einem Boten, seine Stimme einem chthonischen Gesang von jenseits des Grabes: “The trombone voice is beneath the surface and receded, repeatedly moving, gently pushing up and gradually expanding. Moving between worlds.“

Aber schon die Vorlage, das Ensemblestück Music for Europe (2016) ist von Trauer durchzogen. Bis auf den zentralen dritten Satz tragen die insgesamt fünf Teile des Werks sprechende Titel wie transparent lament oder porous with loss. Sie reagieren damit einerseits auf ein Bild Paul Klees und dessen Titel, der zugleich, als Schrift, der Bildgegenstand ist: „Hoch und strahlend steht der Mond. Ich habe meine Lampe ausgeblasen, und tausend Gedanken erheben sich von meines Herzensgrund. Meine Augen strömen über von Tränen“.

Daneben sind es freilich die Klänge selbst, deren Reduziertheit und Zerbrechlichkeit die besondere Schönheit der Musik Naomi Pinnocks ausmachen und die hier wie auch in ihren übrigen Werken einen sehr persönlichen und unmittelbar anrührenden Ton ausmachen. Am stärksten treten diese Qualitäten vielleicht dort zutage, wo Naomi Pinnock sich der menschlichen Stimme bedient, wie in vestige (2020), einem sechsminütigen Solo für eine Sopranstimme, oder in I am, I am für Sopran und Streichquartett (2019) auf ein Textfragment von Rachael Boast. Die Reduktion der Mittel ist in beiden Stücken evident, ebenso die dadurch erst mögliche Fokussierung auf feinste Flexionen des Gesangs. Besungen werden in beiden Fällen die Erfahrung und die Male eines Verlustes, wie er in dem I am, I am zugrunde liegenden Auszug aus Rachael Boasts Gedicht „Tentsmuir“ von 2011 zur Sprache kommt:

I am, I am

is all that remains –

Zugleich aber scheint die Musik Naomi Pinnocks etwas zu bewahren, das auch im Verlust unverlierbar bleibt – weil es durch das zarte Insistieren ihrer Klänge hindurch erinnert und restituiert wird.