Fotos: Rui Camilo

 

Jagen und Sammeln

Gedanken zur Musik von Mikel Urquiza

von Dan Albertson

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Wann hört ein Komponist auf, “jung” oder “vielversprechend” zu sein, und tritt einfach „nur“ als Komponist in Erscheinung?  Zählen Verdienste allein dann, wenn sich jemand noch in der Entwicklung befindet? Jugend ist nicht zwangsläufig vielversprechend, und eine Ausbildung ersetzt nicht die Fantasie, das am schwersten fassbare Element im Werdegang eines jeden Künstlers und einer jeden Künstlerin.

Mikel Urquizas musikalische Persona trat von Anfang an mit einer gewissen Reife auf den Plan, verfeinerte sich dann im Studium mit Lehrern, deren Stile und Einflüsse Urquiza jedoch unterlief oder neu konfigurierte, um die offenkundigen Spuren zu verwischen. Selbst das größte Talent wäre vertan, bliebe es ungeschult.

 Jeder Versuch, die mit unerschöpflicher, ungestümer Energie gewappnete Musik Urquizas in eine Schublade zu stecken, erweist sich sogleich als sinnlos. Sein ästhetischer Standpunkt ist weder der Widerstand noch die Vorreiterrolle, sondern eher das Einverständnis. Tatsächlich ist es genau diese Verbeugung vor dem Fluss des täglichen Lebens und seiner Transformation, etwas an sich wenig Wertvolles zu nehmen und viel daraus zu machen, was seiner Musik den Charme verleiht. Seine Virtuosität ist subtil; er ist ein Jongleur, dem es gelingt, die verschiedenartigen Teile seiner Musik in der Luft zu halten. Nicht nötig, hier zu protzen.

Ist es paradox, in den Fluten unterzutauchen und sich im gleichen Augenblick davon abzuheben? Komplexität und Einfachheit, die gegenläufigen Winde der jüngsten Jahrzehnte akademischer Musik, wetteifern bei Urquiza mit Ernsthaftigkeit und List um die Vorherrschaft. Ist denn irgendetwaswirklich“ das, was es vorgibt zu sein?

Ob er den Phänomenen, die er doch kritisieren oder zumindest skeptisch betrachten möchte, zum Opfer fällt, indem er sich ihnen so sehr nähert, bleibt eine Frage der Interpretation. Macht sich Urquizas Werk darüber lustig, wie sehr unsere Gesellschaft gefallen ist, zelebriert es sie, so wie sie ist, ist es ein Plädoyer für die Wertschätzung von Witz und Verstand in einer aus den Fugen geratenen Welt, ist es eine Liebeserklärung an das Hier und Jetzt? Oder irgendetwas dazwischen? Ein Zwist um die Hermeneutik ist unvermeidlich.

Doch egal, welche Perspektive man einnimmt, Urquiza lässt sich nicht als Beute alles Kurzlebigen, Banalen oder Trivialen auftischen und ist auch weit davon entfernt, es zum Kultstatus zu erheben. Er nutzt es vielmehr als Rahmen für direkte, deklarative, oft berauschende Kompositionen, die nicht nur unmittelbare und mitunter anzügliche Belohnungen hervorbringen, sondern auch einer Prüfung durch wiederholtes Exponiertsein standhalten.  

Drei klar voneinander unterschiedene Stränge lassen sich in seinem jüngsten Werk erkennen: die Verwendung von sozusagen verbalen Ausströmungen als Textquellen, von mehrsätzigen Formen, um Kontrast oder Extreme in den Vordergrund zu rücken, und von Zitaten und Halbzitaten.

Drei Vokalwerke in rascher Folge demonstrieren nonkonformistische Ansätze. „I nalt be clode on the frolt“ für Sopran und neun Spieler (2018) und dessen natürlicher Nachfolger „Songs of Spam“ für sechs Stimmen und sieben Spieler (2019) registrieren die Einflüsterungen, Verlockungen und Angebote, die moderne öffentliche und private Räume infiltrieren. Von ihrem gemeinsamen Hintergrund abgesehen sind die beiden Werke einander diametral entgegengesetzt, das eine jauchzend und allmählich ermattend, das andere beinahe behäbig. Es lassen sich Parallelen zum Barock ziehen, wo vieles nicht so ist, wie es scheint, und Musik von erhabener Höhe auf zweitklassigen oder gar geschmacklosen Texten aufbaut.

 „Alfabet“ für Sopran und drei Spieler (2019) setzt die suite-ähnlichen Strukturen fort, allerdings in einem eigenen Bereich. Es adaptiert einen klugen Text von Inger Christensen, indem es sich von Klangblöcken abwendet und Gefallen an den Intimitäten des Dialogs findet.

Urquiza lässt sich auch auf das ein, was ins Ressort der Instrumentalmusik fällt oder auch nicht dahinein fällt, darunter zwei Beiträge zum Genre des Streichquartetts, „Indicio“ (2016) und „Index“ (2021), ohne sich Konventionen zu beugen. Sind das humanoide Gurren, Krächzen und Kreischen von „Sex doll deluxe“ für sechs Spieler (2018) und die buchstäblichen oder metaphorischen Vogelstimmen von „Oiseaux gazouillants et hibou qui se retourne“ für dreizehn Spieler (2020) wirklich so weit voneinander entfernt?

Geht es im Meer der erinnerten oder falsch erinnerten Andeutungen in „Mis monstruos marinos“ für großes Orchester (2019) und in „Lavorare stanca“ für zwölf Spieler (2020, auch dieses enthält eine furchteinflößende Kadenz für Dreiecke!) um das Verschwimmen von Produktion und Reproduktion?

Urquiza ist ein Meister der Fälschung. Es werden Zweifel gesät. Geh hinein, verirre dich darin, koste das Delirium aus.

Übersetzung aus dem Englischen Gudrun Brug 24.02.2022