Interview

Das Interview führte der Schweizer Musikwissenschaftler Thomas Meyer am
11. April 2011 in Berlin

"Ich kann nur einen Stoff vertonen, der etwas mit unserer Zeit zu tun hat."

Thomas Meyer : Ich würde gern beim Entstehungsprozess einer Oper ansetzen. Wie gehen Sie an ein solches Projekt heran? Ist da zuerst der Stoff, der Sie interessiert, oder ein Wunsch des Auftraggebers?

Aribert Reimann: Das ist jedes Mal ein bisschen anders. Es beginnt immer mit einem Auftrag. Oft habe ich etwas im Hinterkopf und sage dann: Wenn Sie das und das interessiert, können wir darüber reden. Beim Schloss zum Beispiel hatte ich, als mich Götz Friedrich fragte, verschiedene Projekte im Kopf, die ich immer schon machen wollte, die er aber nicht unbedingt akzeptierte. Als ich dann mit Kafkas Schloss kam, das ich einmal, als ich noch zur Schule ging, in einer phantastischen Inszenierung von Rudolf Noelte auf der Bühne gesehen hatte, war er ganz begeistert. Ähnlich war es beiMedea, als mich Ioan Holender anfragte: Erst einmal wusste ich nicht, was ich machen wollte, es gab da aber eine Figur, die schon lange in meinem Kopf herumspukte, eben Medea. Ich wollte auch wieder zu einem antiken Stoff zurück, aber in veränderter Form, nicht Euripides …

TM: …dessen Troerinnen bzw. Troades Sie vertont haben.

AR: Ich hatte auch das Bedürfnis, einen weiblichen Gegenpol zum Lear zu schreiben. Als ich nun diesen Auftrag bekam, überlegte ich lange. Und als ich einem Freund, Klaus Schultz, der damals beim Lear Dramaturg in München und später Intendant vom Gärtnerplatztheater war, davon erzählte und wieder auf Medea zu sprechen kam, fragte er: "Hast Du eigentlich jemals die Medea von Grillparzer gelesen?" Nein, das hatte ich nicht. Man hat in Deutschland ja immer einen Bogen um Grillparzer gemacht. Bevor ich nach Wien fuhr, las ich das Stück, und danach wusste ich: Ich mache das oder ich mache es gar nicht. Ioan Holender ist sofort darauf angesprungen. Das Merkwürdige war, dass, während ich an Medea arbeitete, um mich herum in Deutschland auf einmal dauernd Grillparzer gespielt wurde. Ich habe mir eine Inszenierung angeschaut, aber danach war ich so sehr im Komponieren drin, dass ich keine weitere mehr sehen wollte. Doch ich hatte das Gefühl, dass ich mit dem Stoff nicht so ganz falsch liege.

Ich kann nur einen Stoff vertonen, der etwas mit unserer Zeit zu tun hat, und ich finde, dass gerade diese Medea-Figur uns heute unglaublich viel angeht. Wir kennen die Probleme mit der Migration. In keinem der Medea-Stücke wird Medea so sehr als Fremde herausgearbeitet wie bei Grillparzer: Sie ist die Nicht-Angenommene, die Leute sperren sich gegen sie. Das fand ich so aufregend, dass ich mich zur Vertonung entschlossen habe. Ich hatte die Jahre davor viele andere Versionen gelesen, fand aber gar keine Beziehung dazu. Es gibt noch einen zweiten Aspekt, der eben gerade bei Grillparzer anders ist: Er ist der einzige, der über die Rückgabe des Goldenen Vlieses geschrieben hat. Sein Stück endet damit, dass Medea nach Delphi geht, es zurückbringt und dort auf ihr Urteil wartet. Und gerade diese Verquickung hat mich sehr berührt: Unsere Welt ist voll von im Krieg gestohlenen Gütern, die noch immer nicht an ihren ursprünglichen Platz zurückgekehrt sind. Eigentlich nehme ich, wenn eine Anfrage kommt, immer Stoffe auf, die mich schon lange beschäftigt haben. BeiTroades zum Beispiel dachte ich, als ich damals acht Jahre nach dem Lear in München einen zweiten Auftrag bekam: Ich muss einmal eine Oper gegen den Krieg und für das Überleben schreiben. Daraus ist Troades entstanden. Der Stoff ist also nicht aus der Luft gegriffen. Ich kann ihn nur verarbeiten, wenn er uns oder mich in unserer Zeit angeht, sonst kann ich das nicht umsetzen.

TM: Interessiert Sie daran auch ein politischer Aspekt?

AR: Man hat versucht, mich als politischen Komponisten herauszustellen. Ich habe mich immer dagegen gewehrt, weil das zu einseitig war. Auf der anderen Seite handelt es sich natürlich bei der Übersetzung von mir in die Musik um Stoffe, die uns alle angehen, und dadurch sind sie doch sehr politisch, gerade bei der Medea und beim Lear.

TM: Sie haben das Libretto zur Medea ja selber bearbeitet. Ich stelle mir vor, dass dabei erst einmal ein Kondensations- und Konzentrationsprozess stattfindet und dass Sie sich dabei ohne Musik in die Figuren einleben.

AR: Beim Lear hätte ich das Libretto noch nicht schreiben können. Das hat damals Claus Henneberg ganz fabelhaft gemacht. Dafür hatte ich noch zu wenig Erfahrung, obwohl wir natürlich alles zusammen durchgesprochen haben, wie man das so tut: Als Komponist hatte ich einige Wünsche, was unbedingt drin bleiben muss. Es war nachMelusine unsere zweite Oper. Bei Troades hatte ich Gerd Albrecht an der Seite, weil wir beide Griechisch in der Schule hatten. Gerd hat seine Version gemacht, ich meine, und dann haben wir sie verglichen und besprochen. Von da an habe ich die Libretti selber gemacht, auch für Das Schloss. Gerade bei Medea war es mir ganz wichtig auszuprobieren, ob ich überhaupt mit Musik in diesen Stoff hineinkomme. Ich habe Grillparzers ganze Trilogie Das Goldene Vlies von vorne bis hinten gelesen und inMedea noch ein paar Kleinigkeiten aus den anderen Stücken mit hineingenommen. Ich habe mich durch den Text durchgearbeitet: Was brauche ich, was nicht? Schliesslich hatte ich am Ende des zweiten Bildes so viel Musik im Kopf, dass ich dachte: So, jetzt komme ich nicht mehr raus, jetzt muss ich es machen. Dieses Moments wegen habe ich ja auch selber versucht, in diesen Text hineinzukommen.

Mit dreißig Seiten Text bin ich in die Komposition gegangen und kam dann mit 22 wieder heraus. Ich habe eben doch noch vieles während des Komponierens gekürzt und einiges umgestellt, denn die Musik diktiert einem nachher den Weg, dem man folgen muss. Irgendwann stellt sich dieser Prozess ein, dass die Musik einen an die Hand nimmt. Es dauert, bei Medea so ein dreiviertel Jahr, aber dann weiß ich, was ich weiter brauche und was ich als Text nicht mehr brauche. Das ist ganz wichtig. Deshalb war es für mich in den letzten Opern doch das Beste, selbst diesen Weg zu gehen, auch bei Bernarda Albas Haus. Mit diesem Prozess beginnt im Unterbewussten eigentlich schon mehr oder weniger die musikalische Arbeit. Wenn ich am Text arbeite, weiß ich schon, wie die Musik aussehen muss, was für Kombinationen sich eventuell ergeben, wo ein Hauptschwerpunkt ist, und damit kann ich auch schon die dramaturgischen Zielpunkte, auf die man zusteuert, festlegen, ohne den großen Bogen zu verlieren.

TM: Ein Komponist erzählte mir einmal, er brauche einen Text, der ihm so viel Freiraum lasse, dass er mit seiner Musik hinein schlüpfen könne. Ist das auch für Sie eine adäquate Beschreibung?

AR: Erstens muss der Text komponierbar sein. Das ist bei Grillparzer sehr stark gegeben, weil seine Sprache schon sehr viel mit unserer Sprache zu tun hat. Dieses Stück weist weit über seine Zeit in unsere Zeit voraus. Es gibt einen wunderbaren Essay von Marie Luise Kaschnitz, der sich damit auseinandersetzt. Zweitens muss der Text durchlässig sein. Ich reduziere ihn auf ein Minimum, so dass ich Schwerpunkte setze und sich die Musik entfalten kann. Es ist immer so, dass ich dann den Text vergesse, die Musik selbständig in mir entsteht und ich schließlich den Text wieder beim Komponieren hinein setze. Es ist also nicht so, dass ich mich von Satz zu Satz heranrangele und die Musik nebenher mitläuft. Es muss genau umgekehrt sein: Die Musik geht ihren Weg, bis ich weiß: Jetzt ist wieder der Moment, wo ich einen Satz einfügen kann. Außerdem muss die Sprache knapp sein. Bei Bernarda Albas Haus zum Beispiel ist die Übersetzung von Enrique Beck gut und doch wieder nicht so gut, aber sie hat einen großen Vorteil: Sie ist sehr knapp wie die Sprache von Federico García Lorca auch. Andere Übersetzungen – Strindbergs Gespenstersonate oder Troades – sind so weitschweifig und so voller Nebensätze, dass man sie gar nicht komponieren kann. Ich habe mir damals bei Lorca eine eigene Fassung gemacht, die ich noch weiter verknappt habe. Die Sätze müssen nur Stichwort für die Musik sein. Sobald lange Textgirlanden kommen, ist es aus! Dann finde ich gar nicht den Weg in die Musik.

TM: So weitschweifige Wagnersche Texte würden Sie also nicht gern vertonen?

AR: Nein. Das könnte ich überhaupt nicht. Bloß hatte Wagner ein vollkommen anderes Zeitgefühl.

TM: Sie unterscheiden das Zeitgefühl. In Ihren Werken scheint mir wichtig, wie Sie die Momente dehnen oder aber raffen.

AR: Das ergibt sich immer wieder, auch daraus, dass der Text so stichwortgebend sein muss, dass sich die Musik entfalten kann. Dann kann ich die Musik dehnen und eine größere Form bilden, in die der Text nur ab und zu hineinkommt. In Momenten aber, wo ich die Musik raffen muss, folgt mehr Text auf Text. Das Zeitgefühl ist also ein vollkommen anderes durch die Musik und beim Denken in Musik, als wenn man nur den Text vor sich hätte.

TM: Das ist in Medea sehr gut gelungen, zum Beispiel in der Figur von Medeas Amme Gora. Bei ihren Monologen (etwa zu Beginn) öffnet sich die Zeit für die Reflexion; danach kondensiert sich die Dramatik wieder.

AR: Grillparzer, der ja eigentlich einen Anti-Euripides schreiben wollte, hat da eben doch die antike Form aufgegriffen, dass am Anfang ein Monolog steht, in dem die Vorgeschichte erzählt wird. In Troades ist das der große Monolog der Hekabe und hier jener der Gora. Ich habe ihn sehr zusammengekürzt – er ist im Stück viel länger –, habe aber hier schon das ganze musikalische Material ausgebreitet, mit dem ich nachher gearbeitet habe. Sie spricht Dinge an, auf die später wieder Bezug genommen wird, und so konnte ich eine richtige Exposition schaffen. Ich fragte mich: Was von diesem musikalischen Material benutze ich später? Was wird weiter variiert, was lasse ich weg? Ich habe eigentlich das meiste in diesen Monolog der Gora hineinkomponiert, um es später durch eine Art Variationstechnik wieder aufzunehmen und weiterzubringen.

TM: Sie arbeiten auch stark mit der Wärme und der Kälte des Klangs. Medea wird gerade zu Beginn durch einen sehr warmen Klang charakterisiert. Wenn aber zum Beispiel später Jason über den Mord an Pelias spricht, wird der Klang plötzlich scharf. Das sind ganz wichtige Elemente zur Charakterisierung.

AR: Hier waren sie besonders wichtig, weil ich Medea und ihr Inneres gegen alles abheben muss, was von außen hereinkommt. Die Bratschen spielen am Anfang eine große Rolle, weil sie aus dem Zentrum Medeas kommen. Mal sind sie verästelt, mal unisono. Damit weiß man, wo Medea von ihrem Inneren her, von ihrem Fühlen und von ihrem Denken vor allem, steht. Was von außen einbricht, etwa wenn Jason auftritt, bringt eine sehr starke Kälte und einen ganz unbarmherzigen Ausdruck in der Musik herein. Das verstärkt sich nachher durch den Auftritt von Kreon und kulminiert in jenem des Herolds, der ja, weil er ein Countertenor ist, die Verlängerung von Kreon nach oben ist. Er sitzt noch über dem Kreon, als Bote vom obersten Gericht der Amphiktyonen. Deshalb habe ich versucht, die Personen alle so zu charakterisieren, dass sie mit ihrem eigenen Umfeld erscheinen. Auch Kreons Tochter Kreusa, die Jason heiraten will: Sie ist am Anfang furchtbar oberflächlich, verändert sich danach aber ein bisschen, weil auch sie in die Enge getrieben wird. Wichtig war mir bei ihr dieser gewisse Glitzer, der an ihr hängt, die Verwöhntheit als Königskind.

TM: Die leichten Koloraturen der Kreusa heben sich ja klar von den viel stimmgewaltigeren der Medea ab.

AR: Irgendwo schreibt Grillparzer, der ja bei der Arbeit immer Bemerkungen zu seinen Stücken gemacht hat: Kreusa singt immer. Für mich war sie einfach eine Person, die immerzu trällert und dauernd etwas singt. Das zeigt ihren oberflächlichen Charakter und ihre Kultur: Was kennt sie schon? Sie kennt eigentlich nur Äußerlichkeiten, eine verwöhnte Person. Deshalb hört man vor ihrem Eintritt erst einmal nur ihre Vokalise, die dann Jason erkennt und weiss, wer damit gemeint ist.

Der Auftritt des Herolds kündigt sich ebenfalls als Vokalise an. Das habe ich bewusst gemacht, weil das ein ganz großer Einschnitt innerhalb des Stückes ist. Man hört ihn von draußen, und darauf singt Kreon: „Ein Herold steht vor meinem Haus.“ Wenn man das umgekehrt machen würde und der Herold schon da wäre, wüsste man überhaupt nicht, wer und was damit gemeint ist. So hört man hier eine Stimme, die man nicht orten kann: Ist es ein Mann, ist es eine Frau? Und das eigentlich löst diesen Einbruch aus. Seine Koloraturen sind vollkommen anders als jene der Kreusa, denn sie haben doch eine gewisse, wenn nicht Aggression, so doch Bestimmtheit. Er fühlt sich ja auch selbst als Bringer der Gerechtigkeit. Er tut, was man ihm aufgetragen hat. Und daher haben seine Koloraturen, seine Vokalisen etwas Fanfarenartiges, nicht von außen, sondern von innen her. Sie verlängern aber gleichzeitig auch musikalisch eine Oktave höher das, womit vorher schon Kreon aufgetreten ist.

TM: Sie laden diese Koloraturen also sehr stark semantisch auf. Ich denke da an dieMelusine zurück. Zu Beginn ist ihre Singweise voller Koloraturen, und die werden vom verliebten Architekten dann ebenfalls übernommen, allerdings auf übertriebene, ja wahnhafte Weise. Bei Melusine selber verschwinden sie im zweiten Teil, wenn sie sich verliebt.

AR: Man muss einen Grund haben, warum man eine Koloratur schreibt. Bei der Königin der Nacht hat es ja auch einen Grund, warum sie diese Wahnsinnskoloraturen mit allen Spitzen schleudert. Auch bei Melusine ist das eine Art Waffe. Sie versucht über die Koloratur allen jenen Einhalt zu geben, die sie bedrängen. Das ist ein bisschen anders als bei Medea, aber doch nicht so unähnlich. Im zweiten Teil der Oper, wenn die Nymphe Melusine durch die Liebe zum Grafen zu einem Menschen wird, verliert sie natürlich diese Koloratur, denn sie muss sich gegen nichts mehr behaupten. Bei Medea ist es umgekehrt: Am Anfang sind es nicht so viele, aber es werden immer mehr, denn sie kämpft und versucht sich gegen alle anderen zu behaupten. Sie wird ja immer mehr in die Enge getrieben, und so bleibt ihr nichts mehr als diese ständige Schleudern, die sie nur kurz vor Schluss verliert, wenn sie mit den Kindern zusammen ist. Ihre ganz starken Ausbrüche sind nun völlig anders als bei der Melusine oder innerhalb des Stückes auch bei der Kreusa; die Spannweite ihrer Koloraturen ist viel größer, sie singt viel aggressiver. Deshalb wollte ich diese Partie auch mit einem dramatischen Koloratursopran besetzen und nicht mit einem dramatischen Sopran. Ich brauchte diese Schleudern, und ich hatte mit den beiden Interpretinnen, mit Marlis Petersen und Claudia Barainsky, wirklich ganz großes Glück: Sie haben beide früher die Königin der Nacht gesungen und wissen, wie man mit einer Koloratur umgeht und dass sie nicht nur eine virtuose Verzierung ist.

TM: Koloratur als Waffe. Wir haben über verschiedene Charakterisierungsmittel gesprochen, die sehr deutlich sind. Soviel ich weiß, arbeiten Sie aber auch mit Zwölftonreihen, die Personen charakterisieren. Ich denke da an Cordelia im Lear.

AR: Bei der Cordelia war das ganz bewusst. Die Musik im Lear wuchert ja sehr, und deshalb habe ich für diese beiden Figuren Cordelia und Edgar, die ja viel miteinander zu tun haben, innerhalb des 24tönigen Klanges einen zwölftönigen Komplex der Reinheit, der Wahrheit hineingesetzt; die beiden sind die einzigen, die in diesem ganzen Lügengebäude voller Intrigen und Brutalität ihre innere Reinheit bewahrt haben. Daher ist Edgar ein Bruder von Cordelia. Beim Lear handelte es sich also mehr oder weniger um eine Art Zitatstruktur. Ich musste diese beiden Figuren abgrenzen im ganzen Stück. Dieser Komplex, der als Reinheitszentrum im Lear gedacht ist, wird auch von den Streichquartetten gespielt, die den Narren begleiten, der alles weiss, der alles sieht und voraussieht. Der Narr ist sozusagen die Klammer für die beiden. Deshalb habe ich diese Streichquartette ganz streng gearbeitet. In den späteren Stücken bin ich nicht mehr so vorgegangen. Die Motivreihen, die sich dort ergeben und mit denen ich im weiteren Verlauf arbeite, haben mit Zwölftönigkeit im Schönbergschen Sinne nichts zu tun.

TM: In einem Interview mit Burkhard Schäfer für die Neue Zeitschrift für Musik haben Sie gesagt, sie versuchten bei der Komposition alle ihre Figuren zu durchleben.

AR: Anders kann man das gar nicht. Man geht ja in die Personen hinein und wieder aus ihnen heraus, man lebt dauernd in und mit diesen Personen, und das wirkt dann nach, wenn man es in Musik transformiert. Ich ertappe mich immer dabei, dass ich beim Komponieren eigentlich die Personen vor mir sehe. Sie sprechen aus mir heraus. Ich sehe mich fast immer auf der Bühne. Nur mit dem Orchester bin ich im Graben. Auf der anderen Seite erlebe ich die Musik aber auch ganz woanders. In meinem Kopf spielt sie sich ganz woanders ab. Beim Schreiben des Librettos nähere ich mich dem Bühnengeschehen, aber beim Komponieren muss man das auch wieder vergessen. Denn das, was sich im Orchester ereignet, ist das Allerwichtigste. Und das versuche ich dann wieder mit den Personen in Verbindung zu bringen. Bei Medea ist es oft so, dass das Orchester schon wieder auf etwas zusteuert oder derjenigen oder demjenigen ein Signal gibt, oder auch umgekehrt: dass es aufsaugt, was vorher von der Person gesungen wurde. Das ist voneinander gar nicht zu trennen.

TM: So übernimmt das Orchester eine ganz zentrale Aufgabe.

AR: Das Orchester ist für mich bei einer Oper immer das Zentrum, bei allem, was sich ereignet, auch gedanklich. Wenn man am Komponieren ist, gerade bei einer Oper, bewegt man sich sehr weg von der Erde. Man geht in den Kosmos oder sonst wohin, von dort kommt die Musik, durch das Schreiben wird sie ins Orchester transformiert. Das Orchester versucht das, was gesagt wird oder was gesagt worden ist, in sich in einer sehr verästelten Struktur im Klang auszudrücken und als Klang umzusetzen. Beim Anfang von Medea, wenn die Bratschen einsetzen, merkte ich, dass ein ähnliches Geäst von Bewegungen in diesem Moment auch in dieser Person stattfindet und dass ich es hörbar machen muss. Oder ein anderes Beispiel – und dieser Vorgang war für mich neu: Ziemlich am Anfang sieht Kreusa die Kinder Medeas und sagt zu ihnen: "Kommt her, ihr heimatlosen Waisen. Ich will euch Mutter sein." Das ist natürlich das Schlimmste, was man einer richtigen Mutter, die daneben steht, sagen kann. In diesem Moment schießt etwas durch Medeas Kopf; was genau, wissen wir nicht, sie sagt es auch nicht, aber wir hören es und erkennen es am Schluss im Feuer, in dem Kreusa verbrennt, wieder: diese Flageolettakkorde in den Streichern. Am Anfang jedoch fragt man sich, warum das jetzt ist. Dann singt sie: "Solange Medea lebt, braucht es keine andere Mutter." Und danach besinnt sie sich darauf, was ihr durch den Kopf gegangen ist. Sie geht dem nach: Was war das eben? Sie weiss in dem Moment schon, was sie vorhat. Und wir erfahren es, wenn wir das Feuer sehen. Diese Dinge muss man da schon hörbar machen. Es ist das Wichtigste, dass man hörbar macht, was im Moment in einer Person vor sich geht, die nur zuhört und im Moment gar nichts sagt. Aber sie reagiert, und zwar im Kopf, und das müssen wir wissen und hören.

TM: Sie deuten damit diese Personen gewissermassen psychologisch.

AR: Gerade das Hörbarmachen des psychologischen Vorgangs in einer Person hat mich immer schon sehr stark interessiert. Wenn man für die Bühne schreibt, muss man wissen und hören, was zwischen Personen passiert. Wenn man das nicht hörbar macht, braucht man auch keine Oper zu schreiben. Denn auf der Bühne stehen Menschen. Das ist auch der Unterschied zum Schauspiel, dass die Musik vor der Sprache kommt. Bevor überhaupt etwas gesagt wird, ist schon die Musik da.

TM: Das ist, nur in Klammern angefügt, auch der Unterschied zu Karlheinz Stockhausens Opernzyklus Licht. Es geht dort nicht um Psychologisierung, sondern um ein kosmisches Geschehen.

AR: Obwohl auch ich mich beim Komponieren schon immer im Kosmos befinde.

TM: Wie meinen Sie das?

AR: Ich meine den Klang, der nicht von hier, sondern von woanders kommt: Dass ich mich immer ausserhalb dieser Erde fühle und versuche, dem in meinem Kopf nachzufolgen, was an Klang auf mich zukommt. Ich meine jetzt nur den reinen Klang, nicht den, der von mir organisiert wird, und dies auch in Stücken, die mit Oper überhaupt nichts zu tun haben. Der Schluss des Lear zum Beispiel hat ja mit dem, was vorher war, insofern nichts zu tun, weil das ein Klang ist, den man vorher noch nicht gehört hat. Er ist zwar aus dieser 24tönigen Reihe mit den Vierteltönen zusammengesetzt, aber er fängt an, sich zu bewegen, wie ein Klangraster, das vibriert; er ist nicht von hier, er geht woanders hin. Ich wollte damit auch von meiner Klangvorstellung her andeuten, dass der Weg des Lear jetzt woanders hin geht, was mit unserer Welt gar nichts mehr zu tun hat. Es ist der Versuch eines Ausblicks in eine andere Welt, die natürlich auch sehr mit dem Jenseitigen zu tun hat. Wo auch immer das ist. Was nun aber nicht im Sinne Stockhausens gemeint ist, das ist ja ganz klar. Jeder hat ein Gefühl für den Kosmos in sich, und jeder erlebt das anders. Ich würde also nicht sagen, dass die Musik, die ich in den Opern geschrieben habe, nur an diesen Personen hängt; sie geht über die Personen hinaus. Denn die Personen sind ja nur Mittler dessen, was ich höre oder was auf mich oder die Personen zukommt. Der Sturm im Lear beispielsweise kommt von ganz woanders her. Er tritt aus dem Lear heraus und geht nun auch in die Weite. Der Klang kommt von woanders und geht immer woanders hin. Ich bin in meiner Klangvorstellung eigentlich nie hier befangen.

TM: Ist das eine geistliche Komponente?

AR: Eigentlich immer. Ohne das könnte ich gar nicht komponieren: ohne einen geistigen Hintergrund, der sich vom Materiellen völlig entfernt. Das ist ein immaterieller Zustand. Und da kommt es eben zu Dingen, von denen ich vorher noch gar nichts weiß. Wenn man einen Klang hört, überlegt man, woher kommt der. Er kommt für mich immer irgendwo her. Aber nicht von hier. Man tritt beim Komponieren auch aus sich heraus. Ich verliere dann immer den Bezug zu meiner Umgebung. Manchmal weiß man gar nicht, wo man ist und driftet irgendwo ab.

TM: Das ist auch etwas sehr Intimes. Sie haben einmal eine sehr persönliche Prägung im Zusammenhang mit Medea erwähnt: Das Feuer am Schluss, wie es sich auch am Ende der Melusine findet, habe für Sie einen stark autobiographischen Hintergrund.

AR: Ich versuche immer dem nachzugehen, warum das so ist, denn es ist schon die vierte Oper, in der das Feuer eine große Rolle spielt. Im Traumspiel ging das Schloss in Flammen auf, dann in der Melusine, in Troades und nun bei Medea auch. Es muss wohl tiefere Gründe haben. Als Kind habe ich sehr früh brennende Häuser gesehen. Als wir – ich war sechs – nach einem Angriff aus dem Keller kamen, sah ich das erste Mal in Halensee ein brennendes Haus. Das Bild hat mich tagelang verfolgt. Immer wenn ich einen roten Abendhimmel sah, fing ich an zu schreien. Und später, 1945, da war ich gerade neun, habe ich den schrecklichen apokalyptischen Angriff auf Potsdam miterlebt. Diese Nacht war die schlimmste meines Lebens. Die ganze Stadt hat gebrannt, unser Haus war eines der wenigen in der Straße, das stehengeblieben war. Alles brannte, die Häuser, die Bäume. Die Funken fielen auf uns herunter, wir mussten aufpassen, dass wir nicht auch verbrennen. Das ist ein so starkes Bild, dass man es nicht mehr verliert. Ich versuchte es zu verdrängen, aber das ging nicht, es kam immer wieder auf mich zu. So ist es vielleicht nicht von ungefähr gewesen, dass die erste Oper mit einem Brand endet. Ich habe mir aber nicht deswegen diese Opern ausgesucht. Diese Dinge sind einfach so eng miteinander verquickt. Jedes Mal ist es auch ein anderer Umgang mit dem Feuer, aber ich glaube, Medea war nun doch das letzte Mal, dass ich mich damit auseinandergesetzt habe.

TM: Vor diesem Hintergrund erstaunt es auch nicht, dass Sie mit Troades ein Antikriegsstück geschrieben haben.

AR: Das kommt einfach in einem hoch. Hätte ich den Krieg als Kind nicht so bewusst erlebt, hätte ich Troades nicht schreiben können. Aber so kommt jedes Mal, wenn wieder ein Krieg auf dieser Welt stattfindet, dieses Bedürfnis auf, eine Oper gegen den Krieg zu schreiben. Ich habe über die Oper als Motto einen Satz der Kassandra gesetzt, den ich nicht vertont habe: "Krieg ist Wahnwitz." Es ist jedes Mal ein Wahnwitz, ein Wahnsinn, denn nichts, nichts, nichts wird damit erreicht. Ich war auch erst nach dem Lear soweit, dass ich mich daran wagen konnte. Es brauchte einen gewissen Abstand und ein gewisses Alter, um diese Traumata, die ich als Kind erfahren habe, musikalisch so zu verbalisieren, ohne dass es einen weinerlichen Aspekt bekommt. Ich konnte das Ganze objektiver gestalten, sonst wäre das gar nicht möglich gewesen. Gerade dieses Bild, dass die Frauen trotz des Feuers auf die Schiffe gehen und dass sie weiterleben wollen, gerade dieser Überlebenswille, den wir alle erlebt haben, auch nach Potsdam, wo wir nicht mehr bleiben konnten und deshalb wenige Tage später auf die Flucht gingen, gerade das erlebt zu haben, war für mich sehr wichtig. Denn da werden plötzlich Kräfte freigesetzt, von denen man gar nichts gewusst hatte. Ich hätte mir eine Woche vor diesem Angriff nicht vorstellen können, jemals mit meinen Eltern drei Wochen mit dem Handkarren auf der Flucht zu sein. Immer wenn wir mittags durch ein Dorf gingen, sahen wir es abends schon in der Ferne von den Russen angezündet brennen. Von diesen Dingen weiss man vorher nichts, und auf einmal sind sie da. Und es hängt davon ab, ob man sich behaupten kann oder nicht. Hat man die Kraft überhaupt? Dadurch, dass ich das erlebt habe, konnte ich vierzig Jahre später diese Oper schreiben.

TM: Dieser Überlebenswille geht in Troades sehr stark von den Frauen aus.

AR: Ich habe damals erlebt, was meine Mutter in diesen Monaten und noch Jahre nach dem Krieg geleistet hat. Überhaupt hier in Berlin die Trümmerfrauen. Deshalb war diese Parallele zu Troades besonders stark. Damit konnte ich verarbeiten, was ich alles als Kind erlebt habe.

TM: Sie haben nie eine Komödie komponiert, eine heitere Oper oder zumindest eine absurd-heitere Oper.

AR: Letzteres ist allerdings seit vielen, vielen Jahren im Entstehen. Ich musste es immer wieder unterbrechen. Jedes Mal kam etwas dazwischen. Aber ich möchte dieses Stück, über das ich jetzt noch nicht sprechen kann, unbedingt irgendwann zu Ende schreiben, denn da kulminieren viele Situationen, die ich bisher noch nie gemacht habe. Mich hat immer die Komik genau am Abgrund gereizt, bevor sie abstürzt. Das fand ich am aufregendsten. Es gibt schon in Melusine ein paar sehr komische Momente, und auch im Schloss mit dem irrwitzigen Gehilfenpärchen Artur und Jeremias, das immerzu ungeheure Dinge anstellt. Eine komische Oper zu schreiben, ist aber erstens wahnsinnig schwer, zweitens: wo befindet sich heute eine komische Oper, nachdem es das Musical gibt, das ja aus einer ganz anderer Welt – der amerikanischen – kommt? Komik nur um ihrer selbst willen hat mich nie interessiert; Komik kurz vorm Absturz aber schon. Denn gerade bevor es abstürzt, kann es ja zu einer unglaublich grotesken Rotation kommen.

TM: Das Beispiel deutet an, dass Sie weitere Bereiche des Musiktheaters erkunden möchten.

AR: Ich kann nicht etwas machen, was ich schon einmal gemacht habe. Ich muss immer etwas neu entdecken oder ich mache es gar nicht.

TM: Sie erwähnten vorhin die Klangvorstellungen, die Sie in Ihrem Kopf mit sich tragen, ob jetzt mit oder ohne Text.

AR: Der Text spielt dabei überhaupt keine Rolle. Es geht einem immerfort irgendetwas durch den Kopf. Pausenlos, mal mehr, mal weniger – was ich nur als Klang greifen kann. Es ist auf meine Weise eine kosmische Explosion. Als ich zum Beispiel den Lear anfing, wusste ich ganz genau, wie er endet, weil ich den Klang vor Augen bzw. in Ohren hatte. Ich wusste, worauf ich das ganze Stück hindurch zusteuern wollte. Dieser Klang stand wie eine Wand da. Und durch die musste ich hindurch, diese Wand musste ich zum Klingen bringen. Es hätte gar keinen Sinn gehabt, wenn ich das schon vorher gemacht hätte. Man hat ja zuvor eine Vorstellung, aber wie es dann genau ist, weiß man noch nicht. Ich kann es erst machen, wenn ich das Material dafür habe. Dann ist das Stück da. Ich musste also das Stück erst ganz schreiben, um dahin, an diesen Schluss, zu gelangen. Aber der Klang war in meinem Kopf immer da.

Ich hatte vorhin den Sturm im Lear erwähnt. Dazu hatte ich mir Notizen gemacht und einige Passagen bereits vorher auskomponiert; das werde ich nie wieder machen. Denn als ich zu der Stelle kam, passte überhaupt nichts mehr. Ich musste einen völlig anderen Klang suchen. Ich hatte in meinen Ohren einen diffusen Klang, der sich aufbaut und der in diesem Lear-Zwischenspiel irgendwo ins Kosmische geht. Aber wie greife und organisiere ich den? Das war für mich das Schwierigste. Die Skizzen konnte ich nicht mehr benutzen und überlegte deshalb: Warum entsteht dieser Klang? Er muss doch einen Grund im Lear selbst haben. Lear spricht dort zu seinen Leuten, die immer weniger werden und die hier auch nicht antworten. Deshalb sagt er: Was steht ihr da und glotzt? Das war genau der Moment, in dem der unterste Ton des Sturms anfängt. In diesem Moment begreift Lear endgültig, dass auch seine Leute nicht mehr für ihn da sind. Langsam baut sich danach dieser zweimal 24tönige Klang in den Streichern auf, bis er zur Explosion führt. Dafür brauchte ich den Schlüssel, in diesen Skizzen aber hatte ich ihn noch nicht. Es ist deshalb besser, ich mache mir nur verbale Skizzen, denn das ist das ganz große Problem: Stimmt es nachher oder stimmt es nicht?

TM: Als Laie denkt man sich: Wenn ein Klang da ist, notiert man ihn halt mal!

AR: Ich hatte diesen Schluss zweieinhalb Jahre lang vor mir im Ohr. Und der ging auch nicht weg. Und ich weiß auch bei Werken, die ich erst noch schreiben will, wie sie aufhören. Sie sind im Kopf und verändern sich weiter, ohne dass ich sie aufschreibe. Das ist eine Art Training bzw. für mich eine Selbstverständlichkeit.

TM: Wann haben Sie diese Fähigkeit bei sich entdeckt?

AR: Ich glaube schon vor dem Traumspiel. Auch bei Orchesterstücken weiß ich schon von Beginn an, wie sie enden werden. Ich steuere auf den Schluss zu, muss ihn aber immer schon haben, ehe ich anfangen kann. Wenn ich mit einem Stück anfange und ich nicht weiß, wie es aufhört, ist es für mich immer sehr schwer, weil ich keinen äußersten Fixpunkt habe.

TM: Sie brauchen also auch da keinen Text.

AR: Eigentlich ist es für mich kein Unterschied, ob ich nun ein reines, abstraktes Orchesterstück schreibe oder für eine Oper. Orchester ist Orchester, das musikalische Denken ist das gleiche. Nur kommt bei der Oper ein Bezug zum Inhalt hinzu, vor allem zur Psychologie der Person. Musik ist aber trotzdem da – als Musik. Und deshalb ist der Weg in ein Orchesterstück für mich gar nichts Anderes. Im Gegenteil: ich brauche das zwischendurch. Vor Medea habe ich vier Orchesterstücke geschrieben, um nach Bernarda Albas Haus von dieser klaustrophobischen Besetzung loszukommen. Ich könnte aber nie ein Orchesterstück nach einem Text schreiben, etwa als Tondichtung, denn dann würde ich den Text gleich mit vertonen. Wenn ich für Orchester schreibe, ist es rein absolute Musik, die mit einem Text gar nichts zu tun hat.