Von des Einfalls Frische

Ernst von Siemens Musikpreis 2012 an Friedrich Cerha

Wer musisch kreativ fünfundachtzig Lebensjahre überstanden hat, den schmückt die Umwelt gern durch Epitheta ornantia wie Altersweisheit oder höchste Schaffensreife. Friedrich Cerha war im Vorjahr so weit, hat aber einerseits diverse Aspekte schöpferischer Reife mittlerweile ein halbes Jahrhundert hindurch bewiesen und andererseits die Weisheit als Erfahrungswert ohne sentimentale Milde konstant skeptisch hinterfragt. Was also haben derlei Konventionen hier verloren, da er doch noch in jüngster Zeit geradezu juvenil sich dem Spontanen öffnende Werke vorlegte? Oder sie stellen Konflikte gleichnishaft dar, etwa im Orchesterstück Wie eine Tragikomödie(2008/09). Sie entblößt laut Goethe „die Identität der Gegensätze“. Das bedeutet bei Cerha hintergründige Materialverwandtschaft. Rascher Wechsel dramatischer Episoden mit solchen besinnlicher Ruhe. Schließlich das Klangbild der Zeitlosigkeit, aber knapp davor forte niedersinkend Bläserakkorde, als wollten sie das Reich des Unvergänglichen öffnen. Ausgetüftelte Akkordgebilde, wie sie nur Cerha zu bauen vermag. Kriterien seines im Kulturraum der ehemaligen Donaumonarchie wurzelnden Personalstils. Ein heute unbeliebter Terminus, abgelöst von Modeerscheinungen dennoch einzusetzen. Gemäß seiner Musik, die ihre individuelle Kraft aus unmarkierten Wegen schöpft. Auf ihnen sah er vorerst ihm fremde Gewächse, aus diesen formte er organisch verzweigte Strukturfolgen, kontrapunktisch geführte Linien, Varianten, sich fügend zur Kongruenz der musikalischen Parameter.

Tragikomödie: synthetische Form der dialektischen Spannung (Ionesco), oder Ausdruck des Zweifelns, Bezweifelns. Letztlich etwa doch heiter rückblickende Souveränität des Alters? Vor nun 54 Jahren gründeten Cerha und Kurt Schwertsik das immer noch rührige Ensemble „die reihe“, womit in Wien die Begegnung mit wirklich neuer Musik begann, interpretatorisch professionell aufbereitet, auf Anhieb erfolgreich weitergeführt, als intendierte Kontinuität ohne Subvention jedoch unrealisierbar. Cerhas diesbezüglicher Bittgang ins zuständige Ministerium endete zwar nicht wie für Mozart mit dem oberstküchenmeisterlichen Fußtritt, sondern mit den wenig feinfühligen Verabschiedungsworten des Ministerialrates, „da kann ja jeder Würstelverkäufer daherkommen“. Damals gewiss für das zarte Ensemblepflänzlein eine Tragödie, heute, aus jahrzehntelanger Entfernung, nur lächerliche Komödie. Retrospektiv gleitet mitunter selbst existenziell Erschütterndes in besänftigte Gemütszonen.

Das Kind Friederich riss einst mit seiner Geige zu den Zigeunern aus, enormes Freiheitsbedürfnis demonstrierend. Sein Geigenspiel ist in Wien, seinem Geburtsort, dank Vaša Příhoda 1953 zur solistischen Reife gediehen. Kurz vor dem Weltkriegsende entfloh er der Wehrmacht in die Tiroler Alpen, wo er 1945 als Hüttenwirt und Bergführer seinen Weitblick zu schärfen begann. Das latente Streben nach oben: hier noch geographisch, bald danach vom Intellekt geprägt, suchend, forschend unterwegs, um musikalisches Neuland auszuprobieren. Der so konstituierten Persönlichkeitswerdung ließen sich durchaus komische Situationen intarsieren, wären sie nicht unterdrückt worden von viel zu lange amtierenden Hütern der politisch unbewältigten Vergangenheit, die Innovationen der Musik des zwanzigsten Jahrhunderts abzuwürgen versuchten. Eine nachwirkend tragische Konstellation, in der sich Cerha als äußerst verstörendes Element nur mühevoll behauptete. Das wirft harte Schatten. Kein gesichertes, wohldotiertes Weiterkommen.

Erste heimische Erfolge stellten sich ab 1957 ein, international ab 1961, da hatte er den Sog der Darmstädter Ferienkurse für neue Musik bereits erlebt. Aufbruchstimmung, gravierende ästhetische Umstülpungen, ansteckend wie anregend. Den orthodoxen Serialismus kopierte er allerdings nicht. Zum Wohle musikalischer Flexibilität entwarf er seriell zu Gruppen gebündelte Aggregate, etwa in Formation et solution oder Relazioni fragili. Gleich danach, 1959/60, brachte er das Konzept des siebenteiligen Spiegel-Zyklus zu Papier, epochales Dokument jenes neuen Kompositionsverfahrens, das statisch wirkenden Massenstrukturen und gleichsam vegetativ sich entfaltenden Klangflächenkomplexen absoluten Vorrang einräumt, zeitgleich mit und unabhängig von György Ligeti erfunden. Zwangsläufig verspätete Uraufführungen der Spiegel-Teile zwischen 1964 und 1972 in Warschau, Donaueschingen, Stockholm, Graz, München, Hamburg und Wien; der Gesamtzyklus erklang erstmals beim Weltmusikfest der IGNM 1972 in Graz. Spiegelungen von Visionen und Evolutionen. Die akustischen Eindrücke evozieren Vorstellungen von Licht-Phänomenen: helle oder düstere Farben, gelöste Heiterkeit oder bedrängende Härte, aber auch, wie Cerha vermutet, die von Kriegserlebnissen geprägte Brutalität im Klang- und Geräuschspektrum. Fataler Irrtum, er habe illustrierende Programmmusik geliefert. Denn eingeschweißt in die Spiegel-Blöcke sind kompositorisch autonome Formen komplexer Faktur. 2011 avancierte er (wie schon 1989) zum Hauptkomponisten des Festivals „Wien modern“, eröffnet mit dem Spiegel-Zyklus. Die Aufführung, rund fünfzig Jahre nach Geburt der Skizzen, bestätigte unbestritten dessen singulären Rang in der Musik des zwanzigsten Jahrhunderts.

Nach Klangmassen und Farbflächen konzentriert sich Cerha auf klare Linien und Transparenz des Satzgefüges. Polyphonie bedeutet ihm präzises Komponieren, minuziös kontrollierte Harmonik, stimmiges Denken. „Nur in knappen Formen kann man Einfälle sehr rasch festhalten“, sagt er, denn bei der langwierigen Arbeit an großen, komplexen Partituren „geht einiges von des Einfalls Frische verloren“. Nicht so bei Kleinräumigkeit der Strukturen und Dauern. Überdies habe er „allmählich erkannt, dass nicht der Schweiß des Komponisten hörbar werden soll“. Das zielt auf sein Spätwerk, mittlere bis kleine Besetzungen. Von knapp 160 Werken zählen grob geschätzt an die 60 zur Kammermusik. Sozusagen ein Zwitter: Kammermusik für Orchester (2004/05). Rund fünfzig Musiker spielen, mehrheitlich solistisch, filigran verästelte Passagen ohne symphonische Attitüde. Die Atmosphäre des subtil serenadenhaften Beginns erinnert an die 1969 entstandene Langegger Nachtmusik I, wohl kein Zufall, denn in diesem Jahr beginnt mit dem aus schroffen, schnittartigen Übergängen zusammengesetzten Catalogue des objets trouvés die Vorgeschichte der Kammermusik für Orchester, diese zwar voll der ursprünglichen Brüche, sonst aber „ganz anders und neu, so dass fast kein Stein auf dem anderen blieb“. Ihm war klar, „dass Vielfalt und Reichtum, bewusst herbeigeführt, auch eine Qualität von Kunst ist oder sein kann“.

In Les Adieux (2005/07), finden kontemplative Gedanken Eingang in die klingende Welt, wo bewusst wahrgenommene Nachhalltöne das Unbehagen gegenüber der Alltagshektik suggerieren. Nicht Abschied in Anlehnung an Beethovens op. 81a, sondern Abschied von einigen kompositorischen Charakteristika: von Kontinuität und kompakten Massen. Stattdessen kurze, heftig ausbrechende Phasen und fragile Ausklänge. Laute Energiepunkte und leises, durchlässiges Verweilen. Reste von Figuren. Und noch einmal das Sich-Abwenden von der Hektik der Welt: Bruchstück, geträumt (2009). Ein Werk, vom Klangforum Wien anlässlich seines 25-jährigen Bestandes erbeten. Zunächst wollte er es nicht schreiben, ungeachtet der engen Beziehung zu diesem Ensemble, mit dem er vor Jahren in einer Reihe von Proben die hinsichtlich Expressivität und Agogik möglichst authentische Interpretation von Werken der Wiener Schule erarbeitet hatte, was vor allem die Musik Weberns ins wahre Licht beförderte. Dann aber träumte er eine sich sacht vorantastende Musik im Pianissiomo, "ein einziges hohes Lob der Langsamkeit", daher im heutigen Umfeld ein Fremdkörper. Schimmernder, kaum hörbarer Beginn, lispelnde Streicher, als träte die Musik aus akustischem Nebel. Sich hebende Schleier gewinnen Kontur, sinken zurück ins nicht Greifbare. Musik des inneren Friedens.

Ohne Einbrüche ging sein Leben freilich nicht von statten. Schaffenskrisen? Falls sie anklopften, blieben sie weithin unbemerkt. Aber Perioden existenziellen Zweifels, kritische Lebensphasen, die den Tod bedrohlich nahe rückten. Die Kette von Musiken mit Requiem-Charakter mag thematisch die negativen Erfahrungen sublimiert haben: Requiem für Hollensteiner für Bariton, Sprecher, Chor und Orchester (nach Thomas Bernhard, 1983), Triptychon für Tenor und Orchester (Texte: Cerha, Zuckmayer, Bernhard, 1983/97), das düstere Dritte Streichquartett (1992), das zurückhaltend resignative Konzert für Bratsche und Orchester (1993), das gewichtig summierendeRequiem für Chor und Orchester (lateinischer Text: Ordinarium, 1994), erweitert durch den De Profundis-Gedichtzyklus des Komponisten, der fatalistische a-cappella-Chor Nichtigkeit ist alles (1995). Eingemischt der Gegenpol, das lächelnd Komödienhafte, Cerhas Sinn für Humor und Ironie: Keintate I und Keintate II (zwischen 1980 und 85). Der Titel vereint den Namen des verstorbenen Wiener Mundartdichters Ernst Kein mit dem Begriff Kantate. Die sarkastischen Texte, den Zentralnerv wienerischer Mentalität spitz treffend, sind die Basis für musikalisch pointiert artikulierte und stilisierte Kabinettstücke im artifiziell überhöhten Wienerlied-Idiom. Substanz und Niveau bleiben unangekratzt in hohen Regionen. Quasi die Fortsetzung: Eine Art Chansons (1985-87), sprachlich experimentell und absurd (Ernst Jandl, Gerhard Rühm, Kurt Schwitters etc.), kompositorisch virtuos und zitatgewürzt.

Beim flüchtigen Hinschauen ein bürgerlich urbaner Lebensstil. Das stattliche Wiener Domizil samt Pool (Cerha braucht Bewegung) im peripher westlich gelegenen Villenviertel. Alternativ das Refugium in Maria Langegg nahe von Donau und Wachau, üppige Vegetation im unfrisierten Garten, Glashaus, Schwimmbecken, die selbst errichtete steinerne Kapelle inmitten von Bäumen. Schöpferisch stimulierende Stille. Allein im Wald. Sich abschirmen. Dessen bedarf er. Seine innere Haltung unangepasst. Dem entsprechend auch sein Komponieren. Nie etwelchen Moden aktualitätsbeflissen nacheifernd. Immer die Zentren gegenwärtigen Musikdenkens reflektierend. Unangepasst daher auch die Hauptprotagonisten seiner Operntrias. Zuvor aber Netzwerk(1962-67, 1978-80), sein diffizilstes Bühnenwerk (falls man Schubladen braucht: Gattung experimentelles Musiktheater), von ihm besonders wertgeschätzt. Das kritische Bild einer Welt als vernetztes System, ansatzweise ein Welttheater mit letalem Ausgang. Prozesse der Veränderung in der Gesellschaft, im Individuum, in Organismen. Der Text ist nonsemantisch, aus lautsprachlich abstrakten Phonemen gebaut, allenfalls Assoziationen erweckend. Das soziologische Spannungsfeld zwischen dem Einzelnen und dem Kollektiv musiktheatralisch darzustellen, bleibt dem Komponisten stringentes Bedürfnis. Jahrzehnte lagerte das Netzwerk-Idiom im Untergrund, mit Zwei Szenen für sieben Stimmen (2010/11) taucht es wieder auf, initiiert von den Fähigkeiten der Neuen Vocalsolisten Stuttgart: Wohlstandskonversation und Hinrichtung. Das ursprüngliche Wortgefüge ist geblieben, im Vergleich Cerhas „die Wirbelsäule“, aber „alle sie umgebenden Organe sind neu“.

In den Jahren zwischen 1960 und 1970 machte sich in innovativen Bühnenwerken die Skepsis gegenüber dem Wort bemerkbar. Von dieser wendet sich Cerha in seiner (Literatur)-Opern-Trilogie strikt ab: Baal (1974-80, Text: Bertold Brecht), Der Rattenfänger (1984-86, Text: Carl Zuckmayer), Der Riese vom Steinfeld (1997-99, Text: Peter Turrini). Wort und Wortbedeutung sind ihm hier unverzichtbar, zumal er sich musikalisch am melodisch-rhythmischen Gefälle der Sprache orientiert. Cerha blendet in diesen drei Opern historische Klischees aus und bereichert sie formal. Das konfliktträchtige, folglich problematische Verhältnis des Individuums zu Gesellschaft und Macht bleibt thematischer Hauptstrang. Baal kann und will die ihm angebotenen organisierten Lebensbedingungen nicht akzeptieren und flieht als Außenseiter in die innere Emigration bis zur Selbstvernichtung. Der Rattenfänger opponiert gegen soziales Ungleichgewicht, ist konfrontiert mit Verfall und Auflösungen sowohl in der feudalen Oberschicht als in der ausgebeuteten Unterschicht und bleibt, soziologisch a priori im Abseits, zwielichtig, da am Ende mehr ein Fragezeichen denn ein utopischer Neubeginn steht. Anders der naive Riese, der Umwelt gegenüber passiv, gleichsam statisch verharrend, in die Außenseiterposition gerät er gegen seinen Willen. Kompositionstechnisch ist jedes der drei Werke mit jeweils anderen Formen und Strukturen bedacht. Der rote Faden resultiert aus Cerhas flexiblem Personalstil. Er manifestiert sich in vielen Details: Art der vokalen Stimmbehandlung und linearen Kontrapunktik, Arbeit mit Intervallproportionen, vor allem die aus Kernzellen abgeleitete Harmonik, selbst in clusterhaften Ballungsmomenten nie aus dem organischen Ablauf fallend. All dem liegen Skizzen von permutierenden Reihenprinzipien zugrunde (meist keine Zwölftonreihen), was im Resultat unhörbar bleibt und bleiben soll.

Die Musik zu Baal verläuft dreischichtig. Zum Einzelmenschen korrelieren melodische Priorität, formprägende Balladen; formelhafte Wiederholungen beziehen sich auf die Gesellschaft; dichte Tongeflechte kennzeichnen die undurchschaubare Natur. Musikdramaturgisch begründet sind hochgradig stilisierte historische Musikformen eingesetzt, etwa Passacaglia, Fuge, auch Tanzformen wie Reggae und Foxtrott. Genau genommen ist das emphatische Baal-Finale auch ein Requiem. - Den Rattenfänger hält ein Grundmaterial aus sieben verschiedenen Tongruppen zusammen, die ein mehrfach verschränktes System situieren. Leit-Elemente signalisieren bestimmte Handlungsabläufe. Den Figuren sind spezifische vokale Topoi zugeordnet, außerdem bestimmte Instrumente (dem Rattenfänger das Saxophon). - Im Riesen vom Steinfeld, ein Stationentheater, sind zwei zwingend stark kontrastierende Klangwelten miteinander verknüpft. Jede Szene hat ihre Aura, ihr spezifisches Orchesterkolorit. Den Hauptprotagonisten eignet eine jeweils zu ihrem Charakter passende Klangwelt. So ist die verinnerlichte Musik des Riesen flächig, statisch, abgeschirmt dunkel und weich, jene seines realen wie irrealen Umfeldes hingegen fluktuierend, dynamisch exaltiert, in grotesken Episoden hektisch ausufernd. Ein äußerer Rahmen, streng polymetrisch zwölfstimmig geschichtet, verankert zeitüberbrückend den melancholischen inneren Rahmen (Legendenlieder, Traumvisionen). Innerhalb dieser Einfassung spannt Cerha einen Bogen: Aufstieg, Peripetie und tragischer Untergang des Riesen. Krass wechselnd eingelagert ist die aufdringliche Kontrastwelt. Sie positioniert das Werk als Dramma giocoso, oder eben Tragikomödie. Klanglich funkelt die Parodie mittels Allusionen und Zitat-Annäherungen: preußische und britische Militärmarschparaphrasen, groteske Walküren-Anklänge, ein jämmerlich absackendes Nazi-Lied, etliche musikalisch interne Späße. Dazwischen unvermittelt beängstigende Umkehr der Abfolge Tragödie-Komödie: Was im Prager Ghetto witzig im Kolorit der Klezmermusik beginnt, endet abrupt erstarrend in der fahl und morendo klingenden Antizipation des Holocaust. Dann abermals Skurrilität, onomatopoetisch grimmiger Scherz, wenn letztlich zum Begräbnis des Riesen dessen Beine abgesägt werden, weil der Sarg zu kurz ist…

Friedrich Cerhas schöpferische Neugier erlahmt nicht. Vorrangig Komponist, sodann Dirigent, Musikwissenschaftler, Lehrer, Naturbeobachter. Sein vitales Bestreben: primär organische Formgebilde zu schaffen, „in denen Entwicklungsvorgänge eine erlebnismäßig stets fassbare Rolle spielen“.

Lothar Knessl


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