Klaus Huber

Ein Lichtstrahl der Hoffnung
Zur Musik von Klaus Huber

Von Max Nyffeler

Spätestens seit der Donaueschinger Uraufführung seines großen Oratoriums Erniedrigt — Geknechtet — Verlassen — Verachtet... von 1983 gilt Klaus Huber als ein Komponist, der an die Möglichkeit einer besseren Welt glaubt und diesen Glauben in seinem Werk zum Ausdruck bringt. Seine humanistischen Ideen formuliert er musikalisch mit hohem künstlerischem Ethos, darin ähnlich dem ebenfalls 1924 geborenen Luigi Nono, und er hat stets darauf beharrt, dass Musik eine notwendige Form der Kommunikation zwischen den Menschen darstellt. Doch leicht hat er es mit seinen Botschaften dem Publikum nie gemacht, und dem Zeitgeist hat er sich schon gar nicht angepasst. Weder durch die Dogmen der materialfixierten Nachkriegs-Avantgarde noch durch die hedonistischen Verlockungen einer geschichtsvergessenen Postmoderne hat er sich je von seinem eigenen Weg abbringen lassen — ein Komponist, der mit seiner Musik und mit seinen literarischen Äußerungen über die gesellschaftliche Rolle von Kunst und Künstler immer wieder Denkanstöße gibt, der sich und den andern unbequem sein kann und sich nicht scheut, Farbe zu bekennen.

Ausdruck und Konstruktion

Was oft pauschal als Engagement bezeichnet wird, teilt sich in jeder Musik zunächst durch die verwendeten Texte mit. Doch bei Klaus Huber werden die Textinhalte in musikalische Struktur transformiert, im Hegelschen Sinn in ihr aufgehoben. Engagement ist somit keine Angelegenheit von verbalen Deklarationen, sondern durch und durch musikalisch vermittelt. Die expressiven Klanggesten, die seine großen orchestralen und oratorischen Werke prägen, entstehen ganz aus dem Inneren des musikalischen Materials heraus. Für sie gilt: Je differenzierter die Struktur, desto komplexer der musikalische Ausdruck, desto mehr "Tiefendimension" besitzt er. 
Intensität des Ausdrucks und Konstruktion stehen in Hubers Kompositionen in einem gespannten Gleichgewicht. Es ist offensichtlich, dass dazu ein hohes Maß an Formbewusstsein und Metier nötig ist. Beides hat er im Lauf seines rund 60-jährigen Komponierens zu größter Meisterschaft entwickelt und seinem Ausdrucksbedürfnis dienstbar gemacht. Es gibt heute wenige Komponisten, die die Musik von innen heraus derart suggestiv zum Sprechen bringen können wie er.

Die Kraft des Leisen

Dies gilt auch da, wo Text gar nicht mehr vorkommt, oder wo er, wie im Streichtrio Des Dichters Pflug von 1989, dem Instrumentalklang als autonome Schicht beigegeben ist; hier werden einzelne Wörter und Silben aus einem Gedicht von Ossip Mandelstam von den Instrumentalisten leise geflüstert. So entsteht eine mehr erahnbare als verständliche Dimension von Sprache, die zur versunkenen Klangwelt der dritteltönig gestimmten Streicher einen fremdartigen und doch intimen Kommentar bildet. 
Die rhetorisch geschärfte Geste, die Parteinahme für Unterdrückte und Entrechtete, die grell gemalte apokalyptische Vision sind nur eine Seite von Klaus Hubers Musik. Es gibt auch diese andere, leise Seite, die genau so präzis ausgeformt und auf Kommunikation mit dem Hörer angelegt ist. In solchen Momenten zieht sich der Klang ganz auf sich selbst zurück. Hier, in der Haltung reinster Introversion, an der Hörschwelle, öffnen sich neue Dimensionen des Ausdrucks und der Empfindung, die ebenso suggestiv wirken wie die Gesten des Aufschreis und des Protests. 
Dieser Hang zur kammermusikalischen Intimität und zur Verfeinerung der musikalischen Mittel durchzieht sein ganzes Werk wie ein roter Faden. Er lässt sich schon in der Kammerkantate Des Engels Anredung an die Seele beobachten, mit deren Uraufführung in Rom 1959 Klaus Hubers internationale Karriere einsetzte. Die Linie setzt sich in den sechziger Jahren fort mit Werken wie dem Streichquartett Moteti — Cantiones und der enigmatischen James Joyce Chamber Music. In den späten achtziger Jahren findet sich der charakteristische, introvertierte Tonfall wieder an entscheidender Stelle in der von Texten der französischen Philosophin Simone Weil angeregten Komposition La terre des hommes. Die Passagen erscheinen wie Fenster zu einer andern Wirklichkeit. Und zugleich weisen sie auf eine neue Schaffensphase voraus.

Schwarzerde: Vernichtung der Kunst und Schimmer einer Hoffnung

Diese Phase setzt dann 1989 mit dem Streichtrio Des Dichters Pflug ein. Für ein ganzes Jahrzehnt stehen nun Gestalt und Werk des russischen Dichters Ossip Mandelstam in Hubers Blickfeld. Mandelstams tragische Geschichte als Künstler, der an der rohen gesellschaftlichen Wirklichkeit zugrunde geht, inspirierte ihn zu seinem dritten Musiktheaterwerk Schwarzerde, uraufgeführt 2001 in Basel. Er bringt darin sein altes Thema, den Konflikt zwischen Individuum und Kollektiv, zwischen humaner Vision und menschenfeindlicher Macht, als Künstlerdrama des 20. Jahrhunderts auf die Bühne. Kunst als heute vielleicht letzter Ort der Humanität, so der Tenor des Werks, hat in einer plump materialistischen Gesellschaft — sei es die Sowjetunion Mandelstams, sei es die Epoche des entfesselten Kapitalismus — keine Überlebenschance im öffentlichen Bewusstsein mehr. In ihrer Transzendenz wird sie nur noch von Wenigen verstanden. Sie kursiert als heimliche Botschaft unter Gleichgesinnten, die in ihr und durch sie die alten humanen Werte wie Liebe und Solidarität, aber auch die Idee der Schönheit, noch einmal erfahren können. Doch diese Botschaft wird letztlich über alle Gewalt siegen — 
das ist die heimliche Hoffnung, die das düstere Stück durchzieht. 
Ein "Stäubchen von Licht": Dieses Bild, das für das Mittelstück der OrchesterkompositionProtuberanzen (1985-86) die Satzüberschrift abgibt, ist als Metapher in Klaus Hubers Werk seit den frühen siebziger Jahren präsent. Sie steht für das, was bei Walter Benjamin die "schwache messianische Kraft" heißt, auf die allein sich Hoffnung gründet. "Schimmer einer Hoffnung" nennt es Klaus Huber, "und auch das Rütteln an eisernen Türen". Womit er zugleich die praktischen Konsequenzen anmahnt. Es ist die Gegenfigur zur andern prägenden Metapher, der des instrumentalen Schreis, die von seinem Golgatha-Stück Tenebrae (1966/67) über Erniedrigt — Geknechtet — Verlassen — Verachtet... bis zu der 2002 über einen Text von Mahmoud Darwish geschriebenen Kammerkantate Die Seele muss vom Reittier steigen... immer wieder zu finden ist. 
Im Spannungsfeld zwischen Aufschrei und zarter Hoffnung, zwischen Ausdruck und Konstruktion, entfaltet Klaus Hubers Musik ihre bekenntnishafte Kraft und Eindringlichkeit. Und wie in den von ihm mehrfach verwendeten Zeilen aus Ossip Mandelstams Woronescher Heften

"Und stille Arbeit silbert, silbert fein Den Eisenpflug, den Stimmenklang des Dichters"

hat sich auch seine eigene Schreibweise im Lauf der Jahre immer mehr verfeinert. Die oft provokanten Aussagen seiner Werke haben sich dadurch nicht verflüchtigt, sondern werden musikalisch noch subtiler erfasst, noch genauer ziseliert, und das „metanoiete!“, der Aufruf zur Umkehr, der sein Werk wie ein Leitmotiv durchzieht, hat durch Verinnerlichung an suggestiver Kraft gewonnen.

Neue Horizonte

Mit der Entwicklung der Dritteltönigkeit in der "Mandelstam-Phase" und der — ab 1991 parallel dazu verlaufenden — Aneignung von Konstruktionsverfahren der arabischen Musik samt ihren kulturgeschichtlichen Hintergründen trat eine radikale Neuorientierung in Klaus Hubers Denken ein. Das Studium der neuen Skalen und ihrer Gesetze betrieb er als praktische Kritik am traditionellen europäischen Tonsystem, der temperierten 12-tönigen Stimmung. Als Geiger, dessen Ohr an nicht temperierte Intervalle gewöhnt ist, hatte ihn deren normierte Uniformität schon immer gestört. Jetzt erschien sie ihm zunehmend als steril. In der unverbrauchten Dritteltönigkeit und mit der freien Adaption der arabischen maqam-Strukturen sah er nun die Möglichkeit gegeben, Melodik neu zu definieren: als Abfolge spezifischer Intervallqualitäten. Das hatte seine Konsequenzen auch für alle anderen musikalischen Dimensionen. Harmonik, Rhythmik, der ganze Sprachduktus der Musik veränderten sich dadurch grundlegend. 
Es ist selten zu beobachten, dass ein Komponist sich mit über siebzig Jahren noch einmal hinsetzt, um sein Metier von Grund auf zu überdenken — mit dem Resultat, dass er damit kompositorisches Neuland erschließt. Strawinskys Hinwendung zum Serialismus in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts ist ein solcher Fall. Wenn Klaus Huber in den neunziger Jahren sein kompositorisches Denken einer ähnlichen tiefgreifenden Revision unterzogen hat, so ist das aber nicht nur Zeichen eines erneuten kreativen Aufbruchs und einer anhaltenden künstlerischen Neugierde. Noch etwas Anderes schwingt darin mit: Die Bereitschaft, sich der umstürzenden Gegenwart mit all ihren Konflikten, Verzweiflungen und Hoffnungen zu stellen und den Versuch zu wagen, Welt noch einmal als brüchiges Ganzes im Kunstwerk zur Darstellung zu bringen.

Neue Komplexität mit zeitlosem Cantus firmus

Voraussetzung dazu ist eine neue, komplexe Form von Subjektivität. Sie eignet sich das Andere, Fremde an, ohne ihm Gewalt anzutun und ohne den Boden unter den eigenen Füßen zu verlieren. Die Folge ist eine neue Art von zusammengesetzter Identität. Sie ist die adäquate Antwort auf die Herausforderungen, die heute die Globalisierung an das künstlerische Individuum stellt. Diesen Weg nach vorne hat Klaus Huber mit einer Mischung von Instinkt und Planmäßigkeit eingeschlagen. Mit seinen künstlerischen Annäherungen an die arabische Musik — und davor schon an asiatische und lateinamerikanische Kulturen — hat er sich dem Andern auf produktive Weise geöffnet. Dabei hat er in diesem Fremden, das so oft als gefahrvoll erscheint, Züge des Eigenen entdeckt und in seinen arabischen Exkursionen etwas von den gemeinsamen Wurzeln der abendländischen und orientalischen Traditionen wiedergefunden.

Es mag verwunderlich erscheinen, dass gerade Klaus Huber, ein Schweizer und obendrein Abkömmling von Bergbauern, solche weitreichenden kulturellen Assimilationsprozesse in seiner Musik in Gang zu setzen vermag. Sind die Schweizer doch eher für ihre angebliche Bodenständigkeit bekannt. Vermutlich ist es aber gerade diese Bodenständigkeit (oder was davon übrig geblieben ist), die ihm die Sicherheit gibt, sich so vorbehaltlos auf die Welt einzulassen. Beobachten kann man noch etwas anderes: In den künstlerischen Erträgen, die Klaus Huber von seinen Wanderungen in der Ferne mitgebracht hat, gibt es einen heimlichen Cantus firmus — die Unterströmung einer subjektiven Empfindung, die zum Gefühlshaushalt des modernen Individuums schlechthin gehört. Die Worte dazu wären dem Motto zu entnehmen, das Heinz Holliger, Hubers langjähriger musikalischer Weggefährte, als Titel über eine kleine Komposition setzte, die er als musikalischen Geburtstagsgruß zu Klaus Hubers Achtzigstem schrieb. Formuliert hat sie vor fast 600 Jahren der spätmittelalterliche Liederdichter Heinrich von Lauffenberg: "Ich wölt daz ich da heime wär."