Essay Morrison

Über Mariss Jansons –
Preisträger des Ernst von Siemens Musikpreises 2013

von Richard Morrison (Leitender Musikkritiker The Times, London, Großbritannien)


Nicht immer werden große Dirigenten verehrt von den Musikern, die vor ihnen sitzen. Toscanini, Klemperer, Karajan, Solti, Szell – das waren alles diktatorische Persönlichkeiten, die Respekt und Ehrfurcht geboten, zuweilen gar Terror verbreiteten, doch kaum geliebt wurden. Mit seinen nun 70 Jahren verdient Mariss Jansons gewiss, zur gleichen Spitzenliga gezählt zu werden wie jene legendären Namen aus der Vergangenheit. Doch es gibt noch den besonderen Grund, sein Leben und seine Leistung zu feiern. Er ist ein großer Dirigent geworden, ohne seine Menschlichkeit, seinen Humor, seine Großzügigkeit, seine Wärme preiszugeben. Er wird verehrt, und er wird geliebt.
Er ist auch ein Magier. Das Wort hört man am häufigsten am Ende einer Jansons-Aufführung, und erst einmal klingt es ein wenig herabsetzend – als sei er so etwas wie ein Jahrmarktskünstler, der Kaninchen aus dem Hut zaubert. Doch ich habe Dutzende Jansons-Konzerte in den vergangenen 35 Jahren gehört, und am Ende kam mir jedesmal unweigerlich die gleiche Frage: Wie um Himmels Willen hat er das zustande gebracht? Das ist’s, was die Leute meinen, wenn sie ihn als Magier bezeichnen. Wie bringt er es nur fertig, dass man vertraute Stücke – selbst so häufig gespielte wie eine Mahler-Sinfonie oder eine Strauss’sche Tondichtung – wie zum ersten Mal hört? Es ist schockierend, fast surreal – als sähe man die Sonne im Westen aufgehen.
Manchmal, wenn ich ganz erstaunt bin darüber, was meine Ohren zum ersten Mal hörten, eile ich sofort in eine Bibliothek und schaue mir die Partitur an, die Jansons gerade dirigiert hat. Unweigerlich entdecke ich da Details, vielleicht tief im Streichersatz verborgen, die ich nie zuvor wahrgenommen habe. Jansons hat sie nicht erfunden, der Komponist hat sie dorthin gesetzt. Aber niemand zuvor hat sie hörbar gemacht.
Das ist die eine Seite seiner Magie. Doch eine andere Seite wiegt sie aus. Nie lässt er es zu, dass sein unermüdliches Entdecken verborgener Details und Erspüren subtilster Artikulation und Klangfarbenmischungen dem, was wahrlich wichtig ist, in den Weg gerät: das ist der große Bogen der Musik, die ganzheitliche Idee des Komponisten, und das, was Jansons die „kosmische Bedeutung“ der Musik nennen würde. Ihm ist eine Geisteskraft eigen, der wir selten begegnen, in welcher Profession auch immer, nicht nur in der Musik: Er ist jemand, der gleichzeitig sowohl die kleinste Einzelheit wie den großen Bogen herausbilden kann; die einzelnen Grashalme und die gesamte Landschaft.
Wie macht er das? Darauf gibt es viele gute Antworten. Seit Kindertagen mit allen Haken und Ösen des Musikmachens vertraut, beherrscht er es rein handwerklich schon, mit einem Orchester souverän und effizient zu proben. Er konzentriert sich darauf, was von ihm abhängt, um das Besondere zu erreichen. Er bringt Spitzenklasse-Instrumentalisten dazu, im Spielen zu verschmelzen, und doch gibt er jedem einzelnen auch den Raum, etwas von sich auszudrücken. Er ist kein Megalomane und kein Tyrann mit absolutem Machtanspruch. Doch da er von sich alles gibt – physisch, mental, geistig – erwartet er das Gleiche auch von seinen Kollegen. Sein Leben lang hat es ihn zu Orchestern hingezogen, deren Musiker von solcher Integrität waren.
Und dann ist da noch seine Körpertechnik. Die Körpersprache eines Dirigenten – die Art und Weise, wie er nicht nur den Taktstock, sondern seinen ganzen Körper und insbesondere seine Augen einsetzt – kann einem Orchester weitaus mehr, und dies weitaus rascher, vermitteln als ein langer erklärender Monolog bei der Probe. Natürlich spricht Jansons auch. Doch nur wenige heutige Dirigenten haben eine so ausdrucksvolle Gestik entwickelt – und sie so natürlich, ungezwungen und wie spontan sprechen lassen.

All dies erklärt viel von seiner Magie. Doch fragt man Jansons selbst nach einer Erklärung, greift er oft zu einer Metapher, mit der er weit in seine früheste Kindheit zurückhorcht: „Ich habe den Kopf eines Letten“, wird er sagen, „aber das Herz eines Russen“. Damit will er nicht zu verstehen geben, dass er leidenschaftlicher für Russland als für seine Heimat Lettland empfindet (obwohl er in den wenigen Wochen des Jahres, die er nicht in Hotels verbringt, in St Petersburg zu Hause ist). Vielmehr weist er genau hin auf die Dualität seines Wesens, die seinen Aufführungen solch hypnotische Kraft verleiht. Es ist die Fähigkeit, auf Musik sowohl intellektuell und analytisch („auf lettisch“) wie leidenschaftlich und instinktiv („auf russisch“) anzusprechen.
Das mag allzu simpel erscheinen, und ist es vermutlich auch. Jansons wäre nicht der erste Meisterdirigent, der ungern zu viel von dem offenbaren würde, was sich in seinem Kopf abspielt. Doch die Dualität passt zu seinem ungewöhnlichen Lebenslauf. Er wurde tatsächlich in Lettland geboren, und unter ungewöhnlichen Umständen. Seine Mutter, eine Opernsängerin, die Jüdin war, brachte ihn 1943 in Riga zur Welt, wo sie sich versteckt hielt – ihr Vater und ihr Bruder waren im Ghetto umgekommen. Doch unmittelbar nach dem Krieg, als Mariss gerade einmal drei Jahre alt war, war sein Vater Arvid bei einem Dirigierwettbewerb so nachdrücklich aufgefallen, dass Jewgeni Mrawinski ihn als zweiten Dirigenten an das Leningrader Philharmonische Orchester holte.
So kam es, dass Mariss als Teenager in Leningrad, am berühmten Konservatorium, Klavier und Dirigieren studierte. Das war ihm schon wie schicksalhaft vorbestimmt gewesen, seit er als kleiner Junge die Namen und die Instrumente aller Mitglieder der Leningrader Philharmonie sich auswendig eingeprägt und Orchester aus Büroklammern, Knöpfen und Holzstückchen „dirigiert“ hatte. „Es war das einzige Orchester, das mir nie widersprach“, scherzte er später.
So wie sein Vater Mrawinski aufgefallen war, erregte der junge Mariss, den man aus der Sowjetunion zum Studium in Wien und Salzburg hatte ausreisen lassen, die Aufmerksamkeit eines anderen, höchst einflussreichen Dirigenten. Herbert von Karajan lud ihn als Dirigierassistenten bei den Berliner Philharmonikern ein, eine goldene Chance für einen 26-Jährigen. Unglücklicherweise sorgten die sowjetischen Behörden dafür, dass das Angebot niemals an Jansons weitergeleitet wurde. Seine Karriere wäre womöglich ganz anders, und viel leichter, verlaufen, wäre er ein Schützling Karajans geworden.
Stattdessen ging er nach Leningrad zurück und wurde Kapellmeister der Leningrader (heute St Petersburger) Philharmonie. Er war dem westlichen Europa nicht vollkommen entzogen; ein wichtiges Engagement war, alle Tschaikowski-Sinfonien in einer Reihe im Fernsehen übertragener Konzerte des BBC Welsh Symphony Orchestra zu dirigieren: eine Reihe, durch die britische Musikfreunde schon früh auf seine große Begabung und seine wunderbar leidenschaftliche Art zu musizieren aufmerksam wurden. Doch erst als er musikalischer Leiter der Osloer Philharmonie wurde, bekam er zum ersten Mal die Gelegenheit, intensiv mit einem Orchester zu arbeiten, das er wirklich sein eigenes nennen konnte.
Die Zusammenarbeit, die 21 Jahre andauerte, war enorm prägend für beide Seiten. Sie brachte den Norwegern internationale Anerkennung, Reisen und Tonaufnahmen. Und für Jansons bot sich die Chance, den idealen, hoch differenzierten Orchesterklang zu verwirklichen, den er sich vorstellte. „Es gibt für den Dirigenten nur eine Regel“, sagt er. „Er muss in seiner Vorstellung schon modelliert haben, wie er die Musik hören möchte. Die Aufgabe in den Proben ist es dann, das, was vom Orchester erklingt, darauf abzustimmen. Um dies zu erreichen, ist es das Wichtigste, die eigene Energie auf die Spieler zu übertragen – eine Energie, die sowohl kosmisch wie physisch ist. Genau das allerdings kann nicht gelehrt werden. Es muss tief aus der Seele des Dirigenten kommen.“

Der nächste Schritt in Jansons’ Karriere führte ihn nach Pittsburgh, wo er noch einmal so ziemlich die gleiche Aufgabe anpackte: ein einigermaßen qualifiziertes Regionalorchester zu Weltklasseformat und -glanz zu führen. Doch ein Umzug in die Vereinigten Staaten auf Dauer war nie zu erwarten. Dazu war und ist Jansons in seinen Anschauungen und seinem Kulturbewusstsein zu europäisch. Er gesteht ein, dass er Aspekte des Lebens in Amerika als „seelenlos“ empfindet – und er leidet auch stark unter Jetlag. Selbst wenn ihm Langzeitbindungen von Dirigenten an Orchester nicht wichtig wären, das Leben eines Globetrotter-Gastdirigenten wäre gleichwohl nicht das seine.
Glücklicherweise brachte ihn seine Rückkehr nach Europa zu zwei Orchestern, deren Musiker an Ambition und Integrität ihm selbst in nichts nachstanden. Einige Beobachter waren verständlicherweise besorgt, als sie hörten, dass Jansons musikalischer Leiter des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks in München und des Königlichen Concertgebouw Orchesters in Amsterdam gleichzeitig werden sollte. Aus Nachbarländern zwei hervorragende, traditionsbewusste, stolze Orchester, die auf der internationalen Bühne in Konkurrenz miteinander standen – wie könnte ein Dirigent, wie blendend auch immer, sie beide leiten?
Jansons antwortete gerade heraus mit dem ihm eigenen Witz: „Ich werde meine Energien vollkommen gleich verteilen“, gab er kund. „100 Prozent an München und noch einmal 100 Prozent an Amsterdam“. Und ein weiteres Mal ist dem Meister der Magie ein blendendes Zauberkunststück gelungen. Vor ein paar Jahren hat die hoch angesehene Zeitschrift Gramophone eine Umfrage unter Musikkritikern durchgeführt mit dem Ziel, eine Rangliste der besten zwanzig Orchester der Welt zu erstellen. Das Concertgebouw und die Münchner waren beide unter den ersten sechs, und Jansons war der einzige Dirigent, der zwei Orchester in der Liste hatte. Eine belanglose Umfrage vielleicht – und doch ein Indiz der enormen Hochachtung, die er bei denen genießt, die dafür bezahlt werden, Konzertaufführungen und Aufnahmen kritisch zu hören.

Noch etwas ist an seiner Art Musik zu machen, ganz entscheidend – und das ist sein Mut. Nicht nur der Mut, Meisterwerke auf neue, ungewohnte Art zu interpretieren, sondern auch vitaler Mut. Oft sechs Stunden am Tag zu dirigieren, und das jeden Tag und wochenlang, fordert enorme physische Kraft und setzt die Konstitution eines Ochsen und das Durchhaltevermögen eines Marathonläufers voraus. Jansons hat viele seiner wunderbaren Gaben von seinem verehrten Vater geerbt, doch eine unglückliche genetische Anlage ist ein anfälliges Herz. Arvid Jansons starb 1984 in Manchester ein paar Tage nach einem Herzinfarkt, der ihn beim Dirigieren des Halle Orchesters ereilt hatte. Nur zwölf Jahre später, als Mariss gerade 53 Jahre alt war, erlitt auch er einen Infarkt, ebenfalls während einer Aufführung – als er auf einem seltenen Ausflug in den Bereich der Oper in Oslo La Boheme dirigierte. Typischerweise versuchte er, schon im Orchestergraben am Boden zusammengebrochen, noch immer den Takt zu schlagen. Ins Krankenhaus gebracht, klammerte er sich an den letzten Lebensfaden. Fünf Wochen später bekam er einen zweiten Infarkt. Er musste sich fast ein Jahr lang erholen und seine Ärzte ermahnten ihn, falls er noch lange leben wolle, müsse er strikte Diät halten und starke körperliche Anstrengung meiden.
Nun, er ist heute ein wenig vorsichtiger mit dem, was er isst: eine harte Prüfung für einen Mann mit einem starken Hang zu Süßem. Aber anstrengende Körperbewegung meiden? Das war vergessen in dem Augenblick, da er wieder aufs Podium stieg. Er ist seinem ganzen Wesen nach unfähig, vor einem Orchester zu stehen und nicht bereits die erste Probe mit vulkanischem Impetus zu leiten. „Als ich nach dem Herzinfarkt wieder zu dirigieren anfing, ging ich zum BBC Welsh Orchestra zurück,“ sagt er. „Das sind so wunderbare, freundliche Menschen und ich wusste, da würde kein Druck sein. Die ersten zwanzig Minuten lang war ich sehr vorsichtig, sehr ruhig, sehr moderat. Aber in der Pause sagte ich zu meiner Frau: ‚Es ist so öde! Wenn ich’s so machen muss, ist’s besser, wenn ich überhaupt nicht mehr dirigiere.‘ Also habe ich meine Arme herumgeworfen wie immer und ich fühlte mich ausgezeichnet.“
Er hat seither unablässig seine „Arme herumgeworfen wie immer“, und das mit hinreißender Wirkung. Doch seit seiner Rückkehr nach der Krankheit haben seine Aufführungen etwas Neues – eine Verklärtheit und Tiefe, die Dirigenten sonst erst in ihren Achtzigern vergönnt sind. „Es ist psychologisch ein interessanter Moment, wenn du fühlst, dass dein Körper sich entscheidet, ob du ins Leben oder in den Tod gehst“, sagt er. „Etwas geschieht tief in dir. Es ist unbedingt eine positive Erfahrung“.
Es ist typisch für Jansons, eine nahezu tödliche Herzattacke eine positive Erfahrung zu nennen. Doch glaubt er, sie habe eine große Veränderung bewirkt. „Ich mag langsame, stille Musik jetzt sehr“, sagt er. „Aber da ist noch etwas anderes. Ich strebe auf eine höhere Ebene. Mir genügt es nicht, die Noten zu spielen. Ich möchte den geistigen Sinn dahinter finden. Ich mahne das Orchester, jedes Konzert zu spielen, als sei es sein letztes.“

Falls Musiker einen Leitsatz brauchen, so wäre das ein hervorragendes Motto. Doch bedarf es eines Dirigenten von außergewöhnlichem Verstand und Geist, jedes Konzert mit der transzendenten Intensität eines Abschieds zu durchdringen. Wenn Jansons ein Geheimnis hat, so ist es vermutlich dies, dass er immer auf der Suche ist, immer nach etwas Undefinierbarem strebt – einem Klang, der doch nie erreicht werden mag in dieser Welt, oder in diesem Leben.
„Vielleicht ist dies das lettische Temperament in mir“, sagt er. „Ich meine, das Leben sollte sein, wie einen Berg zu besteigen, doch nie die Spitze zu erreichen. Vielleicht sollte der Berg noch nicht einmal eine Spitze haben.“

Übersetzung ins Deutsche: Hans Walter Gabler

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