Interview

Interview mit Mariss Jansons –
Preisträger des Ernst von Siemens Musikpreises 2013

Von Christian Merlin, Musikwissenschaftler und Musikkritiker von Le Figaro

Wie stehen Sie mit 70 der heutigen Welt gegenüber? 

Wir leben in einer furchtbaren Zeit. Nicht nur wegen der Hektik und des ständigen Zeitdrucks, denen wir ausgesetzt sind. Es handelt sich um eine unmoralische Zeit. Ich bin mir dessen bewusst, dass es eine ideale Welt nie gab. Aber Geschichte sollte doch mit Entwicklung und Fortschritt verbunden sein. Zwar ist die Technik nie so hochentwickelt gewesen, doch nicht durch Technik schreitet der Mensch fort, sondern durch den Geist. Und wenn der Geist vernachlässigt wird, ist das eine Katastrophe. Heute scheint mir die Balance zwischen Geist und Technik verloren gegangen zu sein, das halte ich für höchst beunruhigend. 

Kennen Sie Heilmittel gegen diese Gefahr? 

Ich sehe eigentlich zwei Mittel, um dagegen zu kämpfen: Religion und Kunst. Religion ist subjektiv und sollte zur privaten Sphäre gehören, aber unentbehrlich ist sie auf jeden Fall. Kunst ist öffentlich und bleibt der beste Weg, um den Geist zu entwickeln: Kunst, und insbesondere Musik, ist Nahrung für Seele und Herz. Ich finde es bedauerlich, dass sich das Verhältnis zu beiden in solchem Ausmaße verschlechtert. Ein Astrologe, mit dem ich befreundet bin – ich interessiere mich sehr für Astrologie –, sagt mir, ich solle nicht so pessimistisch sein, Geschichte sei ein ständiges Pendeln zwischen Tag und Nacht, Up und Down. Aber wenn man überall Krieg, Lüge, Bestechung, all diese Schweinereien sieht, wer sollte da nicht pessimistisch sein? 

War das aber nicht immer so, wobei man früher nur nicht so gut informiert war wie heute? 

Na und? Das fällt mir dafür nicht leichter. Nehmen wir an, Sie haben recht, das wäre aber überhaupt kein Trost! Und das bekräftigt meine Überzeugung, Religion und Kunst sollten viel besser gepflegt werden, 
und zwar durch Erziehung. 

Sind Sie gläubig? 

Sehr! Meine Mutter hat mir den Weg zur Religion gezeigt. Nicht als etwas Dogmatisches: Sie war Jüdin, hat mich lutherisch taufen lassen, als wäre es selbstverständlich, aber sie hat mich weder jüdisch noch christlich erzogen. Ihr religiöses Gefühl war universell und bestand hauptsächlich aus Ethik, Verantwortungsgefühl, Lebenswerten, Gewissenhaftigkeit. Wir haben viel darüber diskutiert, was gut sei und was schlecht, das war für mich als Kind prägend: Das alles habe ich absorbiert. Meine Eltern haben mich wahnsinnig geliebt, vielleicht weil es eine Art Wunder war, mich unter solchen Bedingungen zu kriegen. 

Wurden Sie sich früh dessen bewusst, dass Sie Ihre Mutter heimlich im jüdischen Ghetto gebar, und dass ihr Vater und Bruder von den Nazis umgebracht worden waren? 

Nein, gar nicht. Lange hat mir meine Mutter nichts erzählt. Wahrscheinlich wollte sie mich schonen und schützen, zumal der Antisemitismus in der stalinistischen Diktatur auch bedrohlich war. Meine Tante wurde vom KGB nach Sibirien deportiert. Ich selbst habe diese Tragödien damals kaum wahr genommen, ich war zu jung und meine Eltern haben mich davor bewahrt. 

Inwiefern prägte ihre Kindheit ihren musikalischen Werdegang? 

Sie war ausschlaggebend. Da meine Eltern mich keinem Babysitter anvertrauen wollten, nahmen sie mich einfach mit ins Theater, wo mein Vater mit dem Orchester probte, während meine Mutter ihre Opernrollen einstudierte. Schon als kleines Kind waren mir der Dirigentenberuf und die Welt des Orchesters eine Selbstverständlichkeit. Ich konnte beobachten und fragen, wie das alltäglich funktioniert, ich habe alles unter die Lupe genommen und aufgesaugt. Schon als kleines Kind wusste ich genau, worin die Arbeit eines Orchesterwarts oder Orchesterbibliothekars besteht. Ganz zu schweigen vom Ballett- und Opernrepertoire, das ich bald auswendig kannte. Der frühe Einblick in dieses Räderwerk war insofern besonders wichtig, als ich viel später zum ersten Mal vor einem richtigen Orchester stand. 

Als Kind hatten Sie sogar Ihr eigenes Orchester! 

Ja, ein Spielzeugorchester, das ich selbst mit Knöpfen und Nadeln gebaut hatte. Anstatt mit Zinnsoldaten zu spielen, wollte ich mein Orchester dirigieren, und zwar mit einem Stift als Taktstock, und ich blätterte die Seiten einer Partitur um, ohne sie lesen zu können. Sobald ich krank war und im Bett liegen musste, wollte ich mein Orchester dirigieren. Ich war zugleich Chefdirigent, Intendant und Dramaturg. Ich war für alles verantwortlich, auch für die Programmgestaltung: Ich plante ganze Konzertspielzeiten voraus und legte großen Wert auf Programme. Heute fällt es mir immer schwerer, mir originelle Konzertprogramme einfallen zu lassen, wahrscheinlich weil ich so früh damit angefangen habe! Ich zweifle sehr. Einheit oder Kontrast? Thematisch oder chronologisch? 

Ich habe sie nichtsdestoweniger in Luzern ein recht kühnes Programm dirigieren sehen, nämlich mit Strawinskys Psalmensinfonie, Schönbergs Ein Überlebender aus Warschau, Barbers Adagio und Varèses Amériques. 

Ja, es ging um vier Werke, die mit Amerika verbunden sind, ob sie dort komponiert oder von Amerika inspiriert wurden, und die sich entweder tröstend oder erschreckend mit der modernen Welt befassen, wobei der spirituelle Hintergrund ganz stark ist. 

Sie sind einer der seltenen Dirigenten, der oft als Mittelstück anstatt eines Instrumentalkonzerts einen Orchesterliederzyklus aufs Programm setzt. 

Ich liebe die Stimme, und eine meiner größten Frustrationen war es, so wenig in der Oper zu dirigieren: Es hat sich so ergeben, dass ich vor allem symphonischer Dirigent war, aber es ist schmerzlich für mich, nicht öfter im Theater tätig gewesen zu sein. Meine Mutter war ja Opernsängerin! Orchesterlieder sind ein Mittel, meine leidenschaftliche Liebe zum Gesang zu befriedigen. Dasselbe gilt für Chorwerke, habe ich doch als Chorleiter angefangen. Mein erstes Diplom war im Fach Chorleitung. 

Im Vergleich zu Ihrer glücklichen Kindheit in Riga, scheint Ihr Studium in Leningrad, eine ziemlich harte Zeit gewesen zu sein. 

Am Anfang war es sogar sehr schwierig. Ich war 13 Jahre alt, als meine Familie nach Leningrad zog, weil mein Vater seine Stelle bei der Leningrader Philharmonie als Dirigent neben Mravinsky angetreten war. Ich sprach sehr schlecht Russisch, so dass meine Eltern eine Hauslehrerin anheuerten, die nur auf Russisch mit mir sprach. An der Leningrader Musikschule wurden die höchsten Anforderungen gestellt. Auch war es für mich nicht leicht, dass mein Vater ein bekannter Dirigent war und zur Elite gehörte. Ich musste mir einen eigenen Namen machen und bemühte mich, nicht den Verdacht der Vettern- und Günstlingswirtschaft zu erregen. Der Drang nach Exzellenz und Wettbewerbsfähigkeit setzte mich ständig unter Druck. Damals lernte ich, mit härtester Disziplin zu schuften. 

Kann man sagen, dass Sie diesen hohen Anspruch nie aufgegeben haben? 

Auf jeden Fall. Seit der Zeit stehe ich ständig unter Druck, und ich habe nie aufgehört hart zu arbeiten. Vielleicht ist das der Grund, weshalb ich nicht sehr gut schlafe. Ich verlange wahnsinnig viel von mir selbst, Qualität ist eine moralische Pflicht. Diese Anforderungen, die ich mir selbst stelle, erwarte ich auch von meinen Mitarbeitern, die für das musikalische Ergebnis mitverantwortlich sind. Zu dieser Kompromisslosigkeit gehört sicher viel Stress. 

Und dieser Stress kann gravierende Auswirkungen auf Ihre Gesundheit haben…

Ja, 1996 machte ich zwei Herzinfarkte durch. Der erste fand während einer Bohème-Vorstellung statt, die ich dirigierte. Ich fühlte, dass etwas nicht in Ordnung ist, dirigierte aber weiter. Als ich dann doch stürzte und ohnmächtig wurde, erzählten mir die Musiker, dass meine rechte Hand den Takt immer noch schlug! Seither passe ich besser auf, insbesondere was das Essen betrifft. Getrunken und geraucht hatte ich sowieso nie. 

Ihre Musiker machen sich nichtsdestoweniger Sorgen um Sie. Sie sind von Ihrer Einsatzfähigkeit besonders beeindruckt, nicht nur im Konzert sondern auch bei den Proben. 

Musik ist mein Leben, ich lebe für die Musik. Das kann nur ein hundertprozentiger Einsatz sein. Deswegen ist es unmöglich, meinen Zeitplan zu reduzieren. Ich bin verantwortlich für meine Orchester, wie gesagt ist Verantwortlichkeit seit der Kindheit ein ganz besonderes Gefühl für mich. So will ich unbedingt mit meinen Orchestern weiter auf Tour nach Asien oder Amerika reisen, auch wenn ich den Jetlag immer schlechter verkrafte. Ich könnte auf Gastdirigate ganz verzichten, aber wenn ich Einladungen von den Berliner und Wiener Philharmonikern erhalte, mit denen ich seit Jahrzehnten befreundet bin, wie kann ich nein sagen? Doch wenn ich dirigiere, sind Konzentration und Adrenalin so stark, dass ich jede Pein und jedeVerschleißerscheinung vergesse. Im letzten Sommer habe ich mir eine Gürtelrose zugezogen. Obwohl das äußerst schmerzhaft war, habe ich die Konzertreise nicht abgesagt. Vor jedem Konzert habe ich furchtbar gelitten, sobald ich auf dem Podium stand und den Taktstock erhob, habe ich jedoch nichts mehr gespürt. 

Sie gehören sowieso nicht zu den Künstlern, die oft absagen. 

Mein Vater hat mir einmal gesagt: „Du sollst nicht absagen, wenn Du nicht wirklich krank bist. Sonst wirst Du wirklich krank”. 

Von Ihrem Meister Jewgeni Mravinsky haben Sie einmal gesagt: „Alles, was er tat, tat er für die Musik und nicht für sich selbst.” Gilt das nicht auch für Sie? 

Ich hoffe es. Auf jeden Fall war er in dieser Hinsicht ein Vorbild. 

Was hat Ihnen Ihr Vater beigebracht? 

Unendlich viel. Er war so warmherzig. Ich bin bei Weitem nicht so herzlich wie mein Vater, ich bin sehr 
emotional und kann schnell explodieren, was ich sofort bereue! Er hat mir fantastische Ratschläge gegeben, die ich nie vergessen habe. Über die Versuchung der Kumulierung, der man manchmal am Anfang einer Karriere ausgesetzt ist, sagte er: „Lieber ein gutes Konzert weniger, als ein schlechtes mehr”. Seine unsentimentale Wiedergabe von Tchaikovskis Sinfonien rechtfertigte er so: „Man kann dem Honig doch keinen Zucker beifügen.” 

Sie haben an das Trauma Ihrer Leningrader Jahre erinnert, aber Ihr Wohnsitz ist immer noch in Sankt Petersburg, Ihre Frau Irina ist Russin, Ihre Tochter ist Korrepetitorin am Mariinsky Theater und Ihre Enkelin dort Regieassistentin. Und Sie haben sich nie deutlich negativ über das sowjetische Regime geäußert.

Nur die erste Zeit in Leningrad war für mich bedrückend. Bald stellte sich heraus, dass meine Kommilitonen ganz freundlich waren, und dass die Russen im Allgemeinen warmherzig und entgegenkommend waren. Ich habe eine wunderbare Ausbildung bekommen. Was das Regime betrifft, so kann man eine Diktatur nicht befürworten, aber man muss ehrlich gestehen, dass sie nicht nur Nachteile hatte: Im System gab es Gutes und Schlechtes. Der Erziehungsstandard war ungemein hoch, Kunst wurde auf höchstem Leistungsniveau gepflegt: Mit Sportlern und Musikern wollte das Regime der Welt zeigen, wozu Russland fähig war. Wir waren nicht vermögend, aber Freundschaft und Solidarität spielten eine wichtige Rolle. Ich bin etwas traurig, wenn ich feststelle, dass es im heutigen Russland hauptsächlich um Individualismus und Geldverdienen geht. 

Wenn Sie von den Menschen sprechen, die für Sie eine wichtige Rolle gespielt haben, fällt immer wieder das Wort „herzlich”. Steht das nicht im Widerspruch zur Autorität, die von einem Dirigenten erwartet wird? 

Glauben Sie, ein Mensch hat keine Autorität wenn er herzlich ist? Autorität hat doch nichts mit Despotismus zu tun! Ich habe ein Prinzip, das ich meinem Vater verdanke und das für jeden Dirigenten gilt: Mit dem Orchester sollst du so sein, wie du bist. Man soll nicht versuchen, seine Persönlichkeit zu verfälschen. Wenn man Autorität vortäuscht, spürt das Orchester sofort, dass sie künstlich ist, und das ist noch schlimmer. Orchestermusiker merken gleich, wenn sich ein Dirigent selbstherrlich verhält. Und wenn ein Dirigent meint: „Jetzt muss ich Autorität zeigen”, dann ist Schluss. Ich arbeite doch mit Menschen: Die Orchestermusiker sind meine Kollegen, nicht meine Untergebenen. Sie sind sehr sensibel und empfindlich, sie haben ihr Ego und sind auch Künstler, man darf sie nicht beleidigen. Letzten Endes spielen sie und nicht ich: Ich produziere keinen Klang. Die Autorität des Dirigenten kommt hauptsächlich durch seine fachliche Kompetenz: Gute Vorbereitung, technisches Können, Partiturkenntnis und Musikalität sind wichtiger als Dominanz. Außerdem hasse ich Konflikte. 

Aber der Dirigent ist doch derjenige, der entscheidet? 

Ja, das ist sehr wichtig. Wenn ich vor das Orchester trete, habe ich zu Hause die Partitur stundenlang gründlich studiert. Die Musiker erwarten vom Dirigenten, dass er ganz genau weiß, was er will. 

Gibt es nicht manchmal eine Diskrepanz zwischen dem, was Sie an Ihrem Arbeitstisch allein mit der Partitur erarbeitet haben, und dem Ergebnis mit dem Orchester? 

Wenn ich fertig bin mit Interpretation, Konzeption, Klangmodellen, trete ich vor das Orchester, vergleiche und korrigiere. Eine der Hauptaufgaben des Dirigenten ist zu korrigieren: Wenn etwas schief geht, bin ich verantwortlich und ich blamiere mich. Ich muss meine Absichten an die Musiker weitergeben. Das ist ein psychologischer Prozess, der mit innerer Energie zu tun hat. Aber wissen was man will heißt nicht stur bleiben. Manchmal spielt ein Orchestersolist oder eine Instrumentengruppe eine Phrase anders, als ich vorher gedacht hatte: Wenn es mir gefällt, übernehme ich das. Und beim nächsten Mal mache ich es so. 

Hatten Sie von Anfang an diese natürliche Autorität, die den Orchestermusikern Respekt einflößt? 

Nein, daran musste ich arbeiten. Das Wichtigste ist: Das Orchester muss vorausfühlen, was ich will. Aber wie weit im Voraus? Das ist die große Frage. Das ist eine technische Frage. Eine mystische Frage. 

Technisch oder mystisch? 

Eine technische Mystik. Das kommt mit der Zeit. Dirigierst Du nach oder führst Du ? Jeder Dirigent ist mit solchen Fragen konfrontiert. Das Orchesterspiel hat viel mit Selbstregulierung zu tun. Man merkt es sofort wenn ein Dirigent eilt, schleppt oder etwas Falsches macht : Das Orchester reguliert sich selbst. Das ist die bedeutendste Lektion, die mir Karajan erteilte, als ich dessen Assistent war: „Der Dirigent muss lernen, das Orchester nicht zu stören“, sagte er mir. Deswegen muss man als Dirigent darauf verzichten alles zu kontrollieren und dem Orchester alles zu zeigen, das stört die Musiker, anstatt ihnen zu helfen. Orchestermusiker sind keine Kinder! 
Als junger Dirigent brennst Du, Du bist ungeduldig und willst alles selbst in die Hand nehmen. Das ist prinzipiell erst einmal gut. Mit der Zeit wird man sparsamer. Wenn Du zuviel an Enthusiasmus und Ausdruck hast, kannst Du das regulieren. Wenn Du zu wenig von allem hast, wird es schwierig. Diesbezüglich sagte mein Vater: „Es ist leichter, zu lange Hosen zu kürzen als zu kurze zu verlängern.” Das Wichtige ist, in diesem Reifeprozess die Lebendigkeit nicht zu verlieren. 

Bereuen Sie, früh angefangen zu haben? 

Nein. Dem großen Dirigenten Kurt Sanderling, dem ich eng verbunden bin, habe ich einmal gestanden: „Es gibt drei Werke, vor denen ich mich fürchte: Beethoven 6, Beethoven 9 und Tchaikovski 6”. Er antwortete mir: „Ich verstehe Dich, das sind vielleicht die schwierigsten Werke, bei mir war das genauso, aber eines steht fest: Je früher Du anfängst, desto früher beherrschst Du sie.” 

Sie erscheinen immer noch sehr lernbegierig. 

Oh ja. Man hat ständig etwas Neues zu lernen. Deswegen gehe ich so oft wie möglich in die Proben meiner Kollegen. Es ist so interessant und bereichernd, Haitink, Harnoncourt, Rattle, Muti, Barenboim und viele andere bei der Arbeit zu beobachten! Es ist sehr wichtig, die Tradition und seine eigenen Überzeugungen in Frage zu stellen. 

Das ist mir besonders in Ihrer Wiedergabe der neun Sinfonien Beethovens aufgefallen, die ich unter Ihnen innerhalb einer Woche in Tokyo erlebt habe. Von einem Dirigenten alten Schlages wie Ihnen hätte ich einen wesentlich traditionelleren, romantischeren Beethoven erwartet. Ihr Beethoven war im Gegenteil ganz frisch und flott, als hätten Sie einiges aus der neuen Barockschule übernommen. 

Und wie! Ich bin in der Tat in der alten Tradition eines Furtwängler oder Klemperer aufgewachsen, das war aber eine andere Zeit. Dann kamen Harnoncourt und Brüggen, deren Einfluss prägend war. Man muss unbedingt aufgeschlossen sein, und die historische Aufführungspraxis hat zweifelsohne neue Maßstäbe gesetzt. Vielleicht biete ich in Sachen Beethoven eine Art Synthese an? Und später wird noch etwas anderes kommen. Das ist ein ständiger, lebendiger Prozess. Ich habe mich einmal mit Otto Klemperers Tochter unterhalten: Sie erzählte mir, ihr Vater habe sein ganzes Leben lang mit Beethoven gekämpft! Ich erinnere mich auch, ein Gespräch zwischen meinem Lehrer Rabinovich und George Szell mitgehört zu haben: Sie stellten sich viele Fragen! Mit Beethoven wird man nie fertig. Auch von dem, was ich heute mache, kann ich nicht behaupten: Das ist Beethoven! 

Wie lange im Voraus bereiten Sie sich auf einen solchen Zyklus vor? 

In den letzten zwei Jahren habe ich mich in diese Musik bis zum Verrücktwerden vertieft. Ich lese viel über den historischen Kontext und Biografie. Wenn ich das “Heiligenstädter Testament” lese, kann ich nur weinen: Nachher dirigiere ich anders. Ich habe alle verschiedenen Ausgaben verglichen und studiert. Das ist eine endlose Arbeit: Jonathan Del Mars kritische Ausgabe ist fantastisch, aber für jeden Takt gibt es zwei oder drei Fragezeichen! Auf meinem Arbeitstisch liegen fünf Partituren und sieben Bände mit Fußnoten. Das ist überaus einleuchtend, aber irgendwann muss man als Interpret doch aufhören und selbst entscheiden. Außerdem besteht die große Gefahr, beim Hervorheben von Details, das Ganze, den Bogen zu vergessen. 

Das Risiko scheint bei Ihnen allerdings gering, zeichnet sich Ihr Dirigat doch immer wieder durch einen besonderen Sinn für Architektur aus. 

Wenn der Komponist Gefühle ausdrückt, tut er es anhand einer Form, sonst geht alles auseinander. Das ist unglaublich wichtig. Aber diese Form muss lebendig bleiben. 

Chefdirigent des Concertgebouworkest und des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks gleichzeitig zu sein – ist das nicht viel? 

Ich bin es gewohnt, mich um zwei Orchester zu kümmern: Das war schon der Fall, als ich Chefdirigent in Oslo und Pittsburgh war. Und ich habe meine Gastdirigate auf nur zwei weitere Orchester beschränkt, die Berliner und die Wiener Philharmoniker. 

Sie sind so gefragt, dass Sie sich damit hätten begnügen können, überall zu gastieren, doch sind Sie immer lieber Chefdirigent gewesen. Können Sie das erklären? 

Der Gastdirigent kommt, dirigiert sein Konzert und ist wieder weg. Der Chefdirigent kann etwas von Dauer aufbauen, sowohl künstlerisch als auch menschlich, er muss ständig ans Kollektive denken. Die wunderbarste Erfahrung war in Oslo, wo ich bei Null angefangen habe und ein modernes Weltklasseorchester aufgebaut habe. 

Ist das aber nicht auch eine undankbare Aufgabe? 

Wie meinen Sie das? 

Sie werden für die Qualität des Orchesters verantwortlich gemacht. Seiji Ozawa hat mir erzählt, er fühlte sich in Boston deswegen ständig unter Druck. 

Ja, der Druck ist enorm, aber wie gesagt, ich bin seit meiner Kindheit daran gewöhnt, und ich habe einen großen Sinn für Verantwortlichkeit. Zwar muss der Chefdirigent manchmal unerbittlich sein, während sich der Gastdirigent darum bemüht, beliebt zu sein, um wieder eingeladen zu werden. Aber als Chefdirigent entwickelt sich ein intimes Verhältnis zum Orchester. Und nur so kann ich das verwirklichen, was ich als Kind mit meinem Spielzeug machte. Programmgestaltung, Tourneen, Aufnahmen, Engagement von Gastdirigenten und Solisten, Probespiele zum Anheuern der neuen Orchestermitglieder. Sogar für den Bibliothekar und den Orchesterwart fühle ich mich verantwortlich. Dazu gehören freilich auch unangenehme Situationen, etwa wenn man einem Musiker sagen muss, dass er der Sache nicht mehr ganz gewachsen ist. Solche Gewissensfragen müssen möglichst menschlich geregelt werden. Das kann sehr schwierig sein. 

Sie haben aber zwei Orchester. Ist das nicht heikel? Sie könnten geneigt sein, eines von den beiden vorzuziehen oder zu begünstigen. 

Das wäre fatal. Ich fühle mich wie ein Vater, der zwei Kinder hat. Er liebt beide vollkommen gleich. Unmöglich für Eltern, einen Liebling zu haben. Außerdem haben meine beiden Orchester zwei ganz spezifische Persönlichkeiten. 

Klanglich oder menschlich? 

Beides. Das Concertgebouw klingt weich und transparent, der Bayerische Rundfunk hat mehr Power und Wucht. Wenn das Concertgebouw scharf spielt, dann weil ich ausdrücklich darum gebeten habe. 
Dasselbe wenn das BR Orchester federleicht spielt. Auch das Verhalten ist ganz anders. Die Amsterdamer sind höflich und ruhig, die Münchner lebhaft und feurig, und ich versuche nicht, diese Identität zu ändern. Manche mögen der Meinung sein, die Musiker des Bayerischen Rundfunks plaudern oder seien undiszipliniert, aber das ist gar nicht der Fall: Sie sind einfach lebendig, sie brennen. Beide mögen noch im selben Werk anders klingen, wir konzentrieren uns nur auf Musik und Qualität. Letzten Endes erwartet das Orchester vom Dirigenten, dass er etwas gibt. Die Musiker müssen spüren, dass ich das aus Freude mache. 

Können Sie uns ein Beispiel von Mitverantwortung in europäischen Orchestern geben? 

In Amerika darf sich der Dirigent die Musiker aussuchen, die dieses oder jenes Konzert spielen, was ziemlich verletzend für denjenigen sein kann, der nicht ausgewählt wird. Sowohl in München als auch in Amsterdam sorgen die Musiker selbst für die Diensteinteilung, ohne dass ich mich einmische: Wenn ich etwa zwei Solooboisten habe, darf ich nicht entscheiden, wen ich in der Eroica oder in der Pastorale will. Das ist gut so, denn wenn die Musiker den Eindruck hätten, einige werden begünstigt, hätte das verheerende Folgen auf das Vertrauensverhältnis zwischen Orchester und Dirigent. Es geht doch im Grunde genommen um zwischenmenschliche Beziehungen. Pflicht des Dirigenten ist es, dass sich jeder Musiker wichtig fühlt. 

Was wäre die größte Tugend für einen Dirigenten? 

Ehrlichkeit. 

Sie haben eine menschliche Tugend genannt, keine musikalische. 

Ehrlichkeit gilt für beides: die Menschlichkeit und die Musik.

Das Interview führte Christian Merlin, Musikwissenschaftler und Musikkritiker des “Figaro”, während der Japan-Tournee des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks im November 2012.

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