Michael Gielen

Von Rainer Peters

Für die Kunst dürfe man ruhig "das Gehirn bemühen", hat Michael Gielen gesagt, und: sie sei "eine Möglichkeit, der Wahrheit zu begegnen", und die sei nun einmal "nicht immer angenehm". Er ist unfähig, Musik "als Palliativum", als Beruhigungsmittel, anzusehen und zu verabreichen. "Kunst kann Spaß machen", räumt er zwar ein, aber "zu nichts  als dem Spaß ist sie nicht da." Es gibt zahllose solcher zitierfähiger Gielenscher Äußerungen über die Musik als "geistfähiges Material"  – lakonische Fassungen eines umfangreicheren Credos, nach dem die Arbeit des Dirigenten vor allem im Aufspüren und Offenlegen des komponierten Sinns besteht, dazu der Vermittlung der Einsicht, dass Kunst und Musik nicht Genussmittel und Entertainment sind, keine Transportmittel für Glamour, Luxus und Wellness, keinesfalls auch nur die Darbietung des Gesichert-Musealen und unbefragte Tradition. Sondern der Interpret habe, gleichzeitig mit der Herstellung von Deutlichkeit und Transparenz, die Verstörungspotentiale, die Normverstöße, die Irritationen herauszuarbeiten.

Als Folge dieser Erkenntnisse hat Michael Gielen seinen Hörern und Musikern so manche Unbequemlichkeit und – mit Thomas Mann zu reden – ein eher "strenges Glück" beschert. Was zweifellos damit zu tun hat, dass ihm selbst in die Wiege gelegt war, einen unbequemen Weg zu gehen: Vater Josef Gielen, Kölner, berühmter Regisseur (Uraufführungen der Richard Strauss-Opern "Arabella" und "Die schweigsame Frau") und späterer Burgtheaterdirektor, mit einer Jüdin aus Galizien verheiratet (Gielens "abgöttisch geliebter" Mutter, der Schauspielerin Rose Steuermann, die in Dresden auch mit Schönbergs "Pierrot lunaire" aufgetreten war), emigrierte mit seiner Familie von Wien nach Buenos Aires, wo Sohn Michael den Musiker-Berufsweg einschlug. Ein Onkel war Eduard Steuermann, berühmter Pianist und Pädagoge, Busoni-Schüler, Schüler, Interpret und Freund Arnold Schönbergs, Lehrer und Freund Theodor W. Adornos. Gielens Tante Salome Steuermann, besser bekannt als Salka Viertel, war Ehefrau des Dichters und Regisseurs Berthold Viertel, wurde später Freundin und Script-Schreiberin von Greta Garbo und verehrte Prinzipalin eines berühmten Salons in Santa Monica, in dem die Mit-Emigranten Thomas und Heinrich Mann, Brecht und Eisler, Feuchtwanger, Max Reinhardt und Schönberg verkehrten. Gielen wuchs in ein familiäres Koordinatensystem aus Kunst und Geist, aus dem man sich natürlich nicht so einfach davonstehlen kann. Günstige Umstände – Unterricht bei ebenfalls emigrierten Lehrern aus dem Schönberg-Berg-Webern-Umfeld  – brachten es mit sich, dass er mindestens so intensiv wie mit der Tradition mit der Musik Arnold Schönbergs groß wurde, jenes Komponisten, bei dem, nach Adorno, die Gemütlichkeit aufhört und der gefordert hatte, Musik solle nicht schmücken, sondern "wahr sein." Schon als Elfjähriger hatte Gielen sich an Schönbergs Klavieraphorismen op.19 versucht; 1949, zu Schönbergs 75. Geburtstag, führte er dessen gesamtes Klavierwerk auf – und erhielt ein hektographiertes Dankesschreiben des bereits Todkranken. Gielen war damals schon Korrepetitor am Teatro Colón, wollte Dirigent und Komponist werden, nicht Pianist. Er hatte in Buenos Aires eine musikalische Hoch-Zeit erlebt, Erich Kleiber und Fritz Busch bewundert, bei einer irritierend-beeindruckenden "Matthäus-Passion" unter Furtwängler am Continuo-Klavier gesessen, den Opernbetrieb kennen gelernt und die besten Sänger von Maria Callas bis Lauritz Melchior gehört. Wenn Gielen seinen "Abgott Kleiber" schildert als einen Musiker, der "mit der derselben Natürlichkeit Mozart wie Wagner, Beethoven wie Berg – oder auch Johann Strauß - beherrschte" und feststellt, "alles kam direkt aus seiner Natur, ohne dass man den Umweg über den Kopf gemerkt hätte" – dann klingt das schon nach einem Stück Autobiographie des Dirigenten Gielen.
 
Dirigent wurde er, zurück in Europa, während zehn harter Lehrjahre als Repetitor an der Wiener Staatsoper, wo er mit Karajan, Karl Böhm, Clemens Krauss und dem besonders verehrten Dimitri Mitropoulos zu tun hatte. In diese fünfziger Jahre fallen seine Anfänge als Schallplattendirigent, zunehmende Verpflichtungen als Interpret neuer Musik – nicht zuletzt seiner eigenen, von der er stets mit auffallendem Understatement spricht – und die Heirat mit der Wiener Sängerin Helga Augsten, die auch Adorno und Otto Klemperer besonders charmant fanden. Ab 1960 wurde Gielen für fünf Jahre Musikdirektor der Königlichen Oper Stockholm (Schwedisch war die sechste Sprache, die er lernen musste), 1969 Leiter des Orchestre National de Belgique in Brüssel, 1973 Chefdirigent der Niederländischen Oper in Amsterdam. In und zwischen diese Perioden der Gesamtverantwortung für Institute und Klangkörper fallen Aufführungen, die entscheidend für Ruf und Ruhm des Dirigenten Gielen waren und für die ersten Eintragungen in die Musikgeschichts-Annalen sorgten - etwa sein Einsatz für Bernd Alois Zimmermann. Die Verbindung zwischen beiden Musikern war keine durchschnittliche Komponist-Interpret-Beziehung, sondern existentiell und schicksalhaft. Gielen, Uraufführungsdirigent der Jahrhundertoper "Die Soldaten" und des "Requiems für einen jungen Dichter", weiß vermutlich mehr als jeder andere über die Bedrängnisse des Komponisten, der schließlich, wie er im Requiem angekündigt hatte, Hand an sich legte. Gielen hat über diese Verknüpfung von Leben, Werk und Tod vielzitierte Worte gesagt. Wer einen Blick in die Partitur der "Soldaten" mit ihren sieben Verlaufsschichten wirft, mag eine Ahnung davon bekommen, welch ein Gewaltakt diese Aufführung von 1965 war, welche innere und äußere Stärke dazu gehörte, das Stück gegen alle möglichen Widerstände und Kabalen durchzukämpfen. Der damalige Chordirektor erinnert sich noch, "wie das Orchester über die Hörgenauigkeit Gielens ‚Kopf stand’, der imstande war, im Rieseninstrumentarium ein nur minimal verstimmtes Bongo auszumachen." Und einem Bratscher erschien es, "als wenn er einen Computer im Kopf hätte."   

Gielens konsequenter Einsatz für die Zeitgenossen resultiert aus seiner Überzeugung von der "Unteilbarkeit" der Musik: er hielt es für selbstverständlich, sich um die lebenden Komponisten ebenso zu bemühen wie die der Vergangenheit. Er empfand nicht nur "Pflicht und Neigung" (so der programmatische Titel einer seiner Kompositionen) sondern hatte auch die Fähigkeiten - das unbestechliche Ohr, den schnellen Überblick, die Schlagtechnik -, die komplexesten Partituren von Stockhausen, Nono, Boulez, Berio, Ligeti, Lachenmann zu entschlüsseln und mit nachdrücklicher, nicht selten gefürchteter Autorität Musikern und Auditorien beizubringen: Adressaten also, die von dieser Unteilbarkeit in der Regel  weniger überzeugt waren als er.

Gielen ist der nicht so häufige Typus des intellektuellen, historisch-philosophisch beschlagenen Musikers, des reflektierenden Orchesterchefs, des analytischen Kopfes - einschließlich absolutem Gehör. Er ist der geborene Dialektiker, verweist auf das Erbteil "jüdischen Widerspruchsgeistes" und führt Hegel im Mund: "Nur insofern etwas in sich selbst einen Widerspruch hat, bewegt es sich, hat Trieb und Tätigkeit." Als er, der verstandesklare Spezialist fürs Moderne, sich der mindestens ebenso geliebten klassisch-romantischen Musik näherte, stellte man fest, dass er auch hier erst über mehr oder weniger liebgewordene Gewohnheiten nachdachte und dann  – gemäß Gustav Mahler – manche Traditionen als maskierte Schlamperei empfand. Zunächst aus eigener Einsicht, später bestärkt durch Rudolf Kolischs Überlegungen, verhalf er etwa Beethovens Metronomangaben zu ihrem Recht, verwirrte und erzürnte Musiker und Hörer mit seinen schnellen Tempi, die doch Werktreue und keine Willkür waren. Gielen be- und hinterfragte zudem die Tradition, mit der die Botschaften des Ideenmusikers Beethoven zu den Themen Aufklärung-Revolution-Idealismus weitergereicht worden waren und überzog deshalb im Finale der fünften Sinfonie – einer Polit-Musik, die die Revolutionsideale trotz Napoleon noch einmal gewaltsam zu beschwören versucht – das "Bekräftigungs-C-dur" derart, dass einen fröstelte. Und die "Neunte" mit ihrem "verblasenen Idealismus" hat er, wie Thomas  Manns deutscher Tonsetzer Adrian Leverkühn alias Dr. Faustus, "zurückzunehmen" versucht, indem er dem hochgemuten finalen Verbrüderungsappell musikalische Zeugnisse kollektiver und individueller Schrecknisse gegenüberstellte oder gar einmontierte: Zimmermanns "Ich wandte mich…" und Schönbergs "Überlebenden aus Warschau". Das wirkte - und war von Gielen auch so gedacht - wie eine musikalische Analogie zum Fazit von Adorno-Horkheimers "Dialektik der Aufklärung", in der Aufklärung stecke bereits ihr Gegenteil: die Barbarei.

Weil Gielen, wie Beethoven, "immer das Ganze vor Augen" hat, ist auch die Tempofrage so entscheidend für ihn. Dass eine ganze Sinfonie ruiniert werden kann, wenn nur  e i n  Satz zu langsam genommen wird, hat er an Gustav Mahlers "Sechster" exemplifiziert. Überhaupt: Mahler! Er war für Gielen eine Lebens-Herausforderung, wurde es umso mehr, als die Offerte einer Gesamtaufnahme der Sinfonien ihm die Chance bot, seine Version des Zyklus als Dokument zu hinterlassen. Neben – natürlich – der Nähe zur Wiener Schule wurde ihm Mahler "so wichtig", weil er "die  Konflikte unserer Welt, die Zerrissenheit des Menschen…ausdrückt…in einer Sprache, von der das Publikum glaubt, dass es sie versteht." Die Unheimeligkeit und Doppeldeutigkeit dieser Sprache aufzudecken, ihre Krisensymptome und ihre Utopie-Entwürfe, ihre Brüche und Durchbrüche, selbstzerstörerischen und jenseitsahnenden Apotheosen darzustellen, hatte Gielen sich vorgenommen – mit überwältigendem, maßstabsetzenden Gelingen. Er hat sich natürlich gründliche Gedanken über die Physiognomie jeder Sinfonie, jedes Satzes gemacht, hat sich abgearbeitet an den als problematisch empfundenen Teilen (dem "affirmativen Getöse" im Finale der "Ersten" etwa), er hat sich selbst dabei ertappt, dass seine "Seelen- und sentimentale Beziehung" zum langsamen Satz der vierten Sinfonie ihn veranlasste, sich "gehen zu lassen"; er hat gegen kritische Vorbehalte des überwiegend bewunderten Adorno andirigiert (im Falle des Finales der "Siebten" mit ihrem "letzten C-dur der Musikgeschichte", das man als Dirigent ironisch "überdrehen" müsse ). Und er hat das Finale der "Neunten" so dirigiert, dass man "vom Jenseits mehr erfährt als aus der Bibel." Gielens Blick aufs Ganze erwies sich auch für andere sinfonische Großformate als besonders segensreich: für die kontrapunktische Durchleuchtung der Brahms-Werke ebenso wie für die Dimensionen und Proportionen der Bruckner-Sinfonien.
 
1977 begann an der Frankfurter Oper die "Ära Gielen", während der er zusammen mit seinem Chefdramaturgen Klaus Zehelein und Regisseuren wie Hans Neuenfels oder Ruth Berghaus das Inhalts- einem Repräsentationstheater entgegenstellte, so entschlossen "verschüttete Inhalte" auf die Bühne brachte, dass die Kulinariker, darunter ein Literatur-Kritikerpapst, auf die Barrikaden gingen. Das, was heute als "Regietheater" allenthalben bejubelt oder verteufelt wird, hat seine Wurzeln überwiegend in diesem Frankfurter Jahrzehnt, in dem Mozart, Wagner und Verdi gegen die Konventionen aufgeführt, Berlioz’ "Trojaner", Busonis "Doktor Faust", die Janáček-Opern und Schrekers "Die Gezeichneten" für die deutschen Bühnen (wieder)entdeckt wurden –  Schreker allerdings erst, nachdem Gielen seine und Adornos Bedenken gegen derlei Klang-Hedonismus über Bord geworfen und die psychoanalytischen Kategorien dieser Musik entdeckt hatte.         

Sein konzertantes Standbein übrigens hatte Gielen während dieser Zeit in Cincinnati, Ohio, wo sein Nonkonformismus sich am amerikanischen Musikbetrieb reiben konnte – und an einem Publikum, dem er dort wie in Frankfurt oder Brüssel ins Gewissen reden musste, dass "Musik ‚alles’ über den Menschen mitteilt", auch das, was man "gern wegschieben" will. Natürlich war Gielen nicht nur auf Konfrontation aus, auf Publikumserziehung mittels Montagen aus Schubert/Webern oder Gegenüberstellungen von Bach/Feldman. Er hat auch Dvořák, Tschaikowsky und Rachmaninow dirigiert, Skrjabin, Josef Suk und Richard Strauss, hat eine Schwäche für Debussy und Ravel, schätzt manche Opern von Puccini als "große Musik" und hat vor einigen Jahren noch in Berlin Bellinis "Norma" herausgebracht.  

Nach Frankfurt rühmt sich auch das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg - und damit die Donaueschinger Musiktage - einer Gielen-Ära. Die Verpflichtung Gielens war nicht nur die Anknüpfung an die große Tradition nachdenkender, risikobereiter Orchesterchefs wie Hans Rosbaud und Ernest Bour, sondern auch ein deutliches musik- und rundfunkpolitisches Signal: ein Votum  g e g e n  den unseligen "philharmonischen Ehrgeiz" mancher Rundfunkorchester, mit hochglanzpolierten Repetitionen des Immergleichen eifrig zum globalen Klassikinfarkt und zur Selbstabschaffung beizutragen. Gleichzeitig ein Votum  f ü r  den möglichst nahen Verbleib an den Richtlinien des Rundfunk-Kulturauftrags, der den Beauftragten zunächst zu "Information" und "Bildung", dann erst zur "Unterhaltung" (und zum "Spaß" schon garnicht) verpflichtet. Die Kombination Gielen-SWR (zunächst SWF) Sinfonieorchester funktionierte über die Maßen gut, wurde ein Begriff in der Musikwelt, der allmählich klar wurde, dass sie hier in Konzerten und auf Tonträger markante Gegenentwürfe zu erwarten hatte: zu den üblichen Konzertprogrammen und den auf Luxusklang trainierten Interpretationen der Pultmagier. Und die CDs mit den Beethoven-, Brahms-, Bruckner- und Mahler-Sinfonien, Bartók- und Strawinsky-Kompositionen oder Schönbergs "Gurreliedern" wurden nicht nur hochdekoriert, sondern – horribile dictu – verkauften sich auch.  Als im Jahre 2005 Gielens Erinnerungen "Unbedingt Musik" erschienen, gab es im Südwesten eine gewisse Erleichterung und einigen Stolz, hat er doch das Kapitel über seine SWR-Zeit mit "Die Erfüllung" überschrieben. Diese Autobiographie wurde, nicht nur in Musikerkreisen, sehr beachtet, weil Gielen ein wichtiger, ein "betroffener" Zeitzeuge des 20. Jahrhunderts ist und weil das Buch in Erkenntnis und Selbsterkenntnis offen, kompromisslos und ungeschönt ist. Er zeichnet sein Leben nicht als Erfolgsstory, sondern als Abfolge von Höhen und Tiefen. Man erfährt schon, worauf er stolz ist, aber er spart Enttäuschungen, Kränkungen, Misserfolge und Schicksalsschläge nicht aus. Er teilt aus, aber schont sich selbst nicht. Man wird beim Lesen der Paradoxie gewahr, dass Gielen nolens volens Teil jenes Musikbetriebs wurde, dessen Auswüchse und Zynismen er so vehement bekämpfte. Und gewisse Selbstheilungskräfte dieses Musikbetriebs haben dafür gesorgt, dass Gielen immer wieder auch wegen seiner Unangepasstheit mit Orden, Preisen und Auszeichnungen bedacht wurde: vom Adorno-Preis 1986 bis zum Ernst von Siemens Musikpreis 2010. Man erfährt im Buch, dass seine Grundbefindlichkeit melancholischer Skepsis von Glücksmomenten erhellt wird, zu denen nicht nur künstlerische Erfüllungen gehören, sondern auch Landschaften, Literatur, Rheingauer Riesling, Zigarren aus Nicaragua und "Ente mit Mango"; dass er mehr Schwierigkeiten hat, die "Menschheit" zu lieben als einige (wenige) Menschen; dass er die Welt – wie Goethe es Beethoven unterstellte – eher "detestabel" findet, aber auch, dass er "bei Schubert oft weinen" muss. Besonders berührend das nahezu altersmilde Lebens- und Arbeitsfazit: "Ich habe immer gemeint – und meine immer noch – Funktion von Kunst und Musik sei es, den Menschen die Konflikte ihrer Zeit und ihres Innern paradigmatisch vorzuführen – und nur das sei die Wahrheit von Kunst…In meinem Alter erkenne ich, dass noch etwas dazukommt, was nicht weniger wichtig ist: Dass die Musik uns vor allem die utopischen, die ersehnten Momente zeigt."