Gespräch zwischen Peter Gülke und Thomas Meyer am 22. Januar 2014 in Weimar

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my. Peter Gülke, Sie sind einerseits ein vielseitig tätiger Dirigent und Dirigierlehrer, andererseits ein Musikwissenschaftler und Musikschriftsteller, Sie vereinigen also in Ihrer musikalischen Tätigkeit gleichsam Theorie und Praxis. Das heißt: Sie stehen auch ein wenig dazwischen. Bereits in Ihrem damals populär gewordenen Buch über Mönche Bürger Minnesänger. Musik in der Gesellschaft des europäischen Mittelalters von 1975 formulieren – und bedauern – Sie dieses Schisma, die Unvereinbarkeit zwischen Theorie und Praxis.

Peter Gülke: „Unvereinbarkeit“ ist eine Spur zu scharf ausgedrückt, zumindest würde ich sagen: Wir sind verpflichtet, an dieser „Unvereinbarkeit“ zu leiden, sie aufzuarbeiten und die Kluft zu verringern. Die Musik ist die einzige Kunst, die zu ihrer Realisierung einer zweiten Ebene, der Interpreten, bedarf. Die Musiker finden eine Partitur vor, die sie realisieren müssen. Aber die Musik ist ja nicht die Partitur, die einer geschrieben hat, sondern erst das, was tatsächlich klingt. Diese zweite Ebene schafft einen intensiven Praxisbezug, der mehr Abstand zu theoretischen Überlegungen mit sich bringt. Es gibt ja viele sehr gute Musiker, die völlig untheoretisch, fast „ungebildet“ sind, aber phantastische Musik machen. Da wirkt in der Praxis etwas mit, was die Psychologen das unbewusste Wissen nennen. Davor sollte man größten Respekt haben, besonders wenn man den Versuch macht, musikalische Sachverhalte aufs Wort zu bringen.

Als Musikwissenschaftler haben Sie sich immer wieder tief auf Ihre Gegenstände eingelassen. Wenn ich sehe, wie dicht an Informationen Ihre Texte sind und wie Sie den Versuch machen, zugänglich und nicht nur für Musikwissenschaftler zu schreiben, denke ich, dass da ein Stoff sehr lange durch Sie hindurchgegangen sein muss und dass Sie ihn mit sehr viel Geduld behandelt haben.

P.G.: Dieser Eindruck schmeichelt mir natürlich. Sicher hab ich`s in der Richtung versucht, und ich hatte das große Privileg, dass meine Frau mich von alltäglichen Belastungen weitgehend freigehalten hat; sie hat ja auch an dem, was ich getan habe, sehr teilgehabt. Wir haben zum Beispiel zusammen Übersetzungen gemacht. Aber natürlich ist das, was Sie die Vertiefung in Einzelheiten nannten, schon wichtig. Ich bin von der musikalischen Arbeit gewohnt, dass ein Melodiebogen oder auch nur drei Sechzehntel mal für zehn Minuten die wichtigste Sache auf der Welt sein können. Insgesamt ist die mit Künsten befasste Wissenschaft in Gefahr, zu schnell vom Detail zu Verallgemeinerungen zu kommen. Mit Verallgemeinerungen umzugehen ist immer leichter als mit Details. Das ist mir manchmal sauer aufgestoßen, obwohl ich zuweilen auch die philosophischen und ästhetischen Verallgemeinerungen liebe. Dadurch aber, dass ich als Musiker immer die Bodenhaftung mit der Materie, mit der Realisierung von Musik hatte und ein Gefühl dafür habe, welche besonderen Schwierigkeiten und welche Zwänge es sind, auch Details wirklich genau zu kennen, sind mir diese vorschnellen Starts in die Stratosphäre der Verallgemeinerungen nicht sympathisch gewesen.

Ich erinnere mich da an den Aufsatz von 2001 über Ihren Lehrer, den Musikwissenschaftler Heinrich Besseler und seine Nähe zum Nationalsozialismus. Darin werfen Sie Ihrem einstigen Lehrer vor, dass er stark in Verallgemeinerungen blieb und sich nicht von Details stören lassen wollte.

P.G.: Die Vokabel „vorwerfen“ ist mir zu drastisch, und für Details hatte er, wenn sie in seine Konzeptionen passten, durchaus viel Sinn. Besseler, der in vielem ein problematischer Mann war, dem ich aber auch viel verdanke, war in seiner Generation sicher der inspirierteste, begabteste Musikwissenschaftler, aber es war damals auch eine Zeit, wo bestimmte Grundlinien erst gezogen werden mussten. Wir haben uns als Studenten manchmal darüber amüsiert, dass er uns Abschlussarbeiten aufgegeben und in einem Nebensatz gesagt hat, worauf das so ungefähr hinauslaufen würde. Meistens hat er recht gehabt. Die Paradoxie seiner Arbeit, zum Beispiel bei den wegweisenden Arbeiten über Musik des Mittelalters und der Renaissance, ist es, dass sich bestimmte Grundlinien bestätigt haben, die Details aber fragwürdig geworden sind. Auf der anderen Seite gibt es einen Fußnotenfanatismus, der sich in der Verachtung größerer zusammenfassender Gedankenlinien ergeht: Das finde ich ebenso gefährlich. Da einen Ausgleich zu finden, stellt sich als Frage bei jedem einzelnen Detail neu. Je näher wir an musikalische Phänomene herankommen, desto weniger haben wir es mit nachweisbaren Dingen zu tun, desto mehr treiben wir Vermutungswissenschaft. Wir sollten mit Phantasie, aber auch mit Gewissenhaftigkeit vermuten, aber wir sollten uns klar sein, dass wir bestimmte musikalische Sachverhalte nie im Normalverständnis „wissenschaftlich“ dingfest machen können.

Wo könnte das Kriterium dafür sein? Es gibt ja verschiedene Ebenen eines Werks: das, was der Komponist gedacht, und das, was er in die Noten hineingeschrieben hat, – das ist nicht dasselbe –, dann das, was der Interpret darin liest und was er dann davon realisiert, und schließlich das, was wir davon hören und davon denken …

P.G.: Und jeder hört etwas anderes.

Auf welche dieser Ebenen beziehen wir uns nun? Es ist natürlich ein Zusammenspiel …

P.G.: Völlig richtig. Es beginnt damit, dass wir Musik, die wir hören, unbewusst auf andere Musik beziehen, die wir schon gehört haben. Unser Begriff von Musik wird ja durch jedes relevante moderne Werk auch strapaziert. Deswegen dieser übliche Spruch gegenüber neuen Entwicklungen: Das ist nun wirklich keine Musik mehr! Den finden Sie im 20. Jahrhundert, aber auch schon im 14. Jahrhundert. Und ich kann ihn nicht nur verdammen, weil ich mir sage: Da leidet wenigstens einer daran, dass seine Begriffe von Musik in Gefahr gebracht werden; es wird ihn auf alle Fälle veranlassen, sich nun intensiv mit dem auseinanderzusetzen, was da in Gefahr kommt. Aber zu Ihrer Frage: Zunächst gilt für die Außenwelt die Textur, die der Autor abliefert. Ich entsinne mich noch daran, was Thomas Mann 1955 bei der Ehrenpromotion im Schloss Weimar gesagt hat: Das Werk ist ein schwebendes Angebot. Das hat mir damals sehr eingeleuchtet. In dem Moment, wo ich das Stück der Öffentlichkeit übergebe, habe ich eigentlich das Maul zu halten. Das Stück spricht für sich. Das bedeutet aber auch, dass das, was ich mit dem Werk intendiert habe und was es vielleicht an inspirativen oder konzeptionellen Hintergründen enthält, nun zurücktritt. Es gibt die Textur, und die ist interpretierbar. Jede Art, ein Kunstwerk zur Kenntnis zu nehmen, ist schon ein Stück Interpretation, jeder empfindet und deutet es anders. Dabei spielen die Musiker mit bestimmten Musiziergewohnheiten und Spieltraditionen eine Rolle, lokale Dinge, aber auch das Klima bestimmter Konzertsäle. Ich weiß genau, dass ich Sinfonien, die ich zwanzig Mal dirigiert habe, in einer neuen Konstellation, zum Beispiel auf Konzertreisen, neu erlebt und plötzlich neue Dinge gefunden habe. Dieses Ausgesetztsein des Werks, dieses Risiko gehört zum Kunstwerk, und dieses Risiko ist ein Teil der Mitteilung. Mir gefällt dieses deutsche Wort „Mitteilung“ – ich teile etwas mit anderen.

Wieviel soll der Interpret wissen?

Sie haben einmal in einem Text über Schumann zitiert, was Herder über Rousseau sagte, als die Confessions erschienen: „Nun wissen wir alles über Rousseau, ich wünschte, man wüsste es nicht.“ Dieser Zwiespalt ist ja in Ihrer doppelten Position als Musikwissenschaftler und Interpret besonders virulent. Wären Sie manchmal froh, wenn Sie als Dirigent nicht wüssten, was Sie als Musikwissenschaftler wissen.

P.G.: Die ganze Wissenschaft, die ganze Theoretisiererei dient vor allem dazu, dass ich die Musik noch schöner finde als sonst sowieso schon. Das ist der Ausgangspunkt. Wenn ich vor dem Orchester stehe oder im Konzert eine Sinfonie dirigiere, denke ich nicht: Jetzt nimmst Du die Kurve in die Durchführung usw. Und bei einem Schönberg denke ich auch nicht an die Umkehrung oder die Krebsumkehrung der Zwölftonreihe, abgesehen davon, dass Zwölftonreihen in mehreren Kombinationen durchzuhören sowieso unmöglich ist. Der theoretische Hintergrund spielt beim Musizieren am Ende eine untergeordnete Rolle. Das muss – wie Kleist formulierte – zur „zweiten Naivität“ geworden sein, muss „in den Bauch“ abgesunken sein. Es ist ein Sediment, aus dem ich, wenn es darauf ankommt, bestimmte Kenntnisse abrufen kann, das sich aber bitteschön nicht aufdrängt. Dafür ist das Quantum der rein praktischen Probleme beim Interpretieren viel zu groß.

Eine andere Frage im Bereich zwischen Musikwissenschaft und Interpretation ist die: Wie hat das Werk damals gewirkt und wie wirkt es heute? Es ist ja interessant zu beobachten, dass Musikkritiker, die etwas ablehnten und mit ihrem Urteil falsch lagen, vielleicht das Richtige gehört haben. Sie nahmen etwas Neues wahr, das sie aber negativ deuteten.

P.G.: Das ist mir aus dem Herzen gesprochen. Solche negative Rezensionen gab es immer wieder, berühmte wie den Verriss der Carmen. Oder dass die Leute mit der Eroicanichts anfangen konnten oder bei Schubert gesagt haben: Das ist ja ganz schön und gut, aber Lieder sind das nicht mehr. Prinzipiell sind mir die wenigen, die mit künstlerischen Sachverhalten ringen, sympathisch, weil es in unserer Zeit doch eine Tendenz gibt, Kunst als die Verzierung auf der Torte unseres Daseins anzusehen und von der Kunst zu verlangen, sie möge vor allem unseren Wohlgefühlen Rechnung tragen oder sie vermehren. Das ist eine schlimme Entwicklung. Die Auskunft darüber, dass bestimmte Menschen an Kunst gelitten, mit ihr gerungen, mit ihr nicht zurecht gekommen sind, deutet auch an, dass sie eine existentielle Wichtigkeit hatte. Mir geht es selbst so. Ich habe viele Uraufführungen gemacht und dabei zuerst mit den Partituren gerungen, also zum Beispiel bei Stücken von Helmut Lachenmann oder György Kurtág. Ich kann doch nicht sagen, dass ich von dieser Musik gleich begeistert war, ich habe oft die Zeit der Proben gebraucht, um ein Verhältnis dazu zu finden und zu wissen: Das ist etwas Bedeutendes, das ich unbedingt in die Öffentlichkeit bringen muss. Dann kommt das Stück ins Konzert, und die Leute, die es nur einmal hören, sollen es möglichst himmlisch finden. Das ist doch eine Unverschämtheit! Ich habe deswegen versucht, bestimmte exponierte Werke entweder zu erklären oder doppelt zu spielen oder beides.

Der Dirigent ist zuweilen in einer etwas paradoxen Situation: Er muss einerseits zeitgenössische Musik zugänglicher machen, aber andererseits hätte er manchmal den Wunsch, das, was uns so zugänglich scheint, wie zum Beispiel eine Beethoven-Sinfonie, wieder ein bisschen unzugänglicher zu machen, um etwas davon spüren zu lassen, wie es damals war.

P.G.: Genau das ist ein Problem. Als ziemlich junger Dachs habe ich einmal einen Aufsatz über die Verjährung der Meisterwerke (1966) geschrieben. Ich hatte damals zum ersten Mal die Unvollendete dirigiert. Dabei ging mir auf, wie wir das plötzliche Abbrechen, dieses Nichtweiterwissen des wunderbaren zweiten Themas mit dem brutalen Tutti, das in einer völlig fremden Tonart einschlägt, schon voraus hören und das, was an Katastrophe drinsteckt, nicht mehr nachvollziehen. Man könnte sich ja vorstellen, man würde da (die zur Zwölftönigkeit fehlenden Töne hineinsetzen, um für heutige Ohren den Effekt zu erzielen, den das Stück gehabt hätte, wenn es denn zu Schuberts Zeiten aufgeführt worden wäre. Viele Leute empfinden heute selbst Komponisten wie Haydn oder Mozart als leicht anzuhören. Das ist überhaupt nicht leicht anzuhören. Das Verständnis heftet sich zu sehr an das Vokabular der Sprache und nicht an das, was damit gesagt wird. Das ist verständlich, weil uns heute Musik aus so unterschiedlichen Zeiten in die Ohren klingt. Wir sollten nicht vergessen, dass die Leute bis hin zum Beginn der Wiederentdeckung alter Musik in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts fast nur Musik ihrer Zeit gehört haben. Das war eine total andere Einstellung, als wir sie heute haben. Hinzu kommt, dass wir heute durch die mechanische Reproduktion ständig Musik in die Ohren gespült bekommen, die wir gar nicht hören wollen. Ich glaube, dass die mehrstimmigen Organa in Notre-Dame, die eine der wichtigsten Stationen in der Entwicklung der europäischen Mehrstimmigkeit waren, in diesen Kathedralräumen des 12. Jahrhunderts als ein Wunder erlebt wurden, und viele spätere Musik ebenso.

Weimar

Wir sitzen hier in Weimar, wo Sie seit vergangenem Oktober wieder leben. Sie sind wieder heimgekehrt. Über ein Kapitel in Ihrem Buch Fluchtpunkt Musik (1994), in dem Sie über ihre Rückkehr in die DDR nach der Wende schreiben, setzen Sie einen Satz von Sartre: Je suis mon passé. Das ist doppeldeutig: Ich bin meine Vergangenheit. und: Ich folge meiner Vergangenheit. Dass Sie jetzt wieder hier sind, ist das eine Rückkehr gewesen zu Ihrer Vergangenheit, zum Ort Ihrer Jugend? Wie haben Sie überhaupt Weimar erlebt…?

P.G.: Ich bin 1934 geboren. Ich habe noch für Hitler geschwärmt. Das war auch notwendig, weil mein Vater Kontakt mit dem Widerstand hatte. Auf dem Gut, von dem meine Mutter herstammte, haben die Verschwörer des 20. Juli sich mehrmals getroffen, in der Nähe von Neuhardenberg in der Mark. Mein Vater wusste davon, meine Mutter natürlich auch, und das musste vor uns Kindern verborgen werden. Ich war also ein begeisterter Pimpf. Dann habe ich als Elfjähriger, als die Bomben fielen und das Haus zerstört wurde, in dem meine Großmutter und zwei meiner Tanten ums Leben gekommen sind, mit Buchenwald-Häftlingen zusammen in den Trümmern gegraben. Das sind Erfahrungen, die umso wichtiger werden, je weiter weg sie liegen. Dann habe ich in Weimar gelebt, bin zur Schule gegangen, zwischendurch war ich mal auf einem Internat. 1952 habe ich Abitur gemacht, und dann zwei weitere Jahre hier an der Musikhochschule studiert, ehe ich nach Jena und nach Leipzig an die Universitäten ging, Danach bin ich langsam in die Kapellmeisterei eingestiegen.

Mein Vater war hier ein sehr eingesessener und beliebter Arzt, meine Mutter war auch Ärztin. Wir sind eben hier im Krieg aufgewachsen, waren fünf Kinder und haben die Bomben fallen sehen und die Nöte des Nachkriegs mitgemacht. So etwas verbindet einen sehr mit der Stadt. Dazu kommt noch eine familiäre Filiation. Meine Großmutter war eine geborene Vulpius, die Großnichte von Christiane. Der Ihnen vielleicht als Trivial-Autor bekannte Christian August Vulpius, der Rinaldo Rinaldini geschrieben hat, war mein Ururgroßvater. Manchmal, wenn meine Frau meine Schriften im Entwurf durchgesehen hat, hat sie gesagt: Ein bisschen mehr Rinaldo wäre nicht schlecht gewesen. (lacht)

1981–83, als ich hier Generalmusikdirektor war, bin ich durch die Stasi unter Druck gesetzt worden. Das ist eine lange Geschichte, die ich jetzt nicht erzählen will. Und als sich 1983 rätselhafterweise noch eine Gelegenheit bot, zu entkommen, bin ich weggeblieben, natürlich in Abstimmung mit meiner Frau. Sie hat da noch mehr gedrängelt als ich, weil ich immer das Gefühl hatte: Du musst Sand im Getriebe bleiben. Aber es wäre nicht mehr gegangen. Ich habe zum Teil an die letzten Wochen, bevor ich in den Westen gegangen bin, keine Erinnerung mehr. Ich habe hier noch eineZauberflöte zur Premiere gebracht, weiß aber von unserer Einstudierung nichts mehr – völliger Erinnerungsschwund.

Danach war ich zehn Jahre Generalmusikdirektor in Wuppertal, habe noch knapp fünf Jahre die Dirigentenklasse an der Freiburger Musikhochschule geleitet. Dann sind wir nach Berlin gezogen; nachdem meine Frau gestorben war, konnte ich nicht in der gemeinsamen Wohnung bleiben. So lag es nahe, hierher zu ziehen.

38 Jahre haben Sie in der DDR gelebt. Ihre Frau kam ja aus West-Berlin. Warum sind Sie nicht eher in den Westen gegangen?

P.G.: Ich wollte ja unbedingt Dirigent werden, versuchte aber gar nicht erst, gleich nach dem Abitur hier an der Weimarer Musikhochschule zum Dirigierstudium anzutreten. Ich hatte – das hing auch damit zusammen, dass hier in Weimar Hermann Abendroth tätig war, ein tolles Vorbild – vor diesem Beruf enormen Respekt. So war die Musikwissenschaft ein feiger Umweg. Später hing mein Hierbleiben auch damit zusammen, dass mein Vater kurz zuvor gestorben und meine Mutter allein war, zwei meiner Geschwister waren schon im Westen. Meine Mutter hat darunter gelitten, dass die Familie getrennt war. Und wenn nun auch ich noch weggegangen wäre …! Wir haben immer gehofft. Dieses Prinzip Hoffnung hat wirklich eine riesengroße Rolle gespielt. Wenn Sie denken, was für Hoffnungsorkane es in der DDR 1968 beim Prager Frühling gegeben hat, wie wichtig Figuren wie Dubček oder Willy Brandt waren, den die Funktionäre hier gefürchtet haben wie die Pest. Diese Hoffnung, dass es sich doch liberalisieren würde, dass die Systeme sich aufeinander zu entwickeln könnten, war tatsächlich riesengroß. Das ist das eine, und das andere ist, was man auch leicht, wenn man’s nicht erlebt hat, unterschätzt oder überhaupt ignoriert: Es hat auch so etwas wie einen DDR-Idealismus gegeben, zumindest am Anfang. und der hat trotz dieser Degeneration der Ideologie und der Moral auf kleiner Flamme bei vielen noch gebrannt. Es ist also eine eigentümliche Mixtur von Gründen gewesen.

1983, kurz nach dem polnischen Desaster, blieben Sie dann im Westen.

P.G.: Das polnische Desaster hat dabei eine große Rolle gespielt. 1980 leitete ich in Dresden auch das Hochschulorchester. Es war bei einer Orchesterprobe: Die Studenten sollten alle am Tag nach der Ausrufung des Kriegszustands in Polen in einer Resolution unterschreiben, dass sie damit einverstanden sind. Ich war damals für viele ein Anlaufpunkt, die aus politischen Gründen in Bedrängnis gekommen sind. Die haben mich nur groß angeguckt, und da habe ich nach einigem Schweigen gesagt: Wisst ihr: Ich würde nicht unterschreiben. Aber ich respektiere, wenn ihr euch anders entscheidet, weil eine unleserliche Unterschrift unter einer Resolution, die viele erzwungene Unterschriften hat, vielleicht doch weniger wiegt, als wenn ihr exmatrikuliert werdet. Das möge jeder von euch entscheiden, wie er will, meine Zustimmung hat er.

Das war kurz, bevor ich hier in Weimar Generalmusikdirektor wurde. Normalerweise war der hiesige GMD gleichzeitig Leiter der Dirigentenklasse an der Hochschule. Doch hier hatte ich sofort Hochschulverbot. Was ich in Dresden gesagt hatte, war natürlich eine Minute später bei der Stasi, und von da an stand ich hier in Weimar von vornherein unter Beobachtung – wie sehr, will ich gar nicht wissen. Ich habe meine Akte nie aufgemacht. Ich wollte diesen Wettbewerb in Horrorstories nicht mitmachen.

Wie haben Sie dann die Wende erlebt?

P.G.: Sehr merkwürdig. Ich dirigierte an dem Abend des 9. November das Residenzorchester in Den Haag, Achte Bruckner, unvergesslich: Der Konzertmeister, ein sehr netter alter, feiner Mann, kam danach zu mir in die Garderobe und sagte: Herr Gülke, gehen Sie mal ganz schnell mit Ihrer Frau ins Hotel und drehen Sie das Fernsehen an! Und dann haben wir dagesessen und haben geflennt.

1991 oder 92 habe ich dann wieder die Weimarer Staatskapelle dirigiert. Ich war natürlich auch ein bisschen ängstlich: Das Orchester wusste zwar, dass ich drangsaliert worden war, aber im Stich gelassen hatte ich sie trotzdem. Und als ich dann wieder in dem Probesaal in der alten Musikschule war, die Dielen rochen immer noch so nach diesem Ölputz, mit dem man die Gymnasien seit dem Ersten Weltkrieg poliert hatte, und da brannte wieder so ein großer Kanonenofen – es war genau wie zehn Jahre zuvor. Die Staatskapelle ist nicht nur ein gutes, sondern auch ein Orchester mit einem guten Binnen-Klima, und so war ich gleich wieder mitten drin. Es war sehr schön. Mahler 5. Das werde ich nie vergessen.

Musik oder Sprache

Sie haben vorhin gesagt, Sie wollten Dirigent werden, aber auch, Sie hätten sich für sehr viele andere Sachen interessiert. Gab es je die Notwendigkeit einer Entscheidung: Musik oder Sprache?

P.G.: Der Vorzug der Musikwissenschaft war, dass ich diese Entscheidung rausschieben konnte. Als ich 1957 mit dem Staatsexamen abgeschlossen hatte, wurde mir – ich war das Kind eines Bürgerlichen – eine sehr merkwürdige Stelle angeboten: Ich sollte als Leiter eines Kulturhauses auf die Insel Rügen gehen, das heißt: verschwinden. Ich hatte an der Hochschule schon ziemliches politisches Aufsehen erregt, weil ich nach der Studentengemeindeverfolgung im Jahr 1953 aus der FDJ ausgetreten war. Das war der erste schwarze Strich in der Akte. Deswegen wollte man mich weghaben, und das habe ich abgelehnt. Ich hatte also überhaupt keine Position, habe wie ein Verrückter Klavier geübt, gleichzeitig Konzertrezensionen geschrieben und meinem Doktorvater bei der Du Fay-Gesamtausgabe geholfen. Dann bin ich 1959 als Repetitor in Rudolstadt eingestiegen, in einer sogenannten „Klitsche“, und dort fünf Jahre geblieben. Ich war Repetitor, gleichzeitig Dramaturg – das war eigentlich mein Hauptberuf –, habe die Schauspielmusiken komponiert und war verpflichtet als Aushilfscellist. Die Hauptsache stand nicht im Vertrag, nämlich, dass ich dirigieren wollte. Aber Gottseidank ergibt sich das, und irgendwann ist es geglückt: Weihnachtsmärchen dirigieren, Operetten nachdirigieren, erste Einstudierung Zar und Zimmermann, wie sich das gehört. Daneben alle Opern repetiert. Das war eine harte Schule, ich bin jeden Morgen spätestens um acht im Theater gewesen, habe angefangen, Klavier zu üben, musste sämtliche musikalischen Programmhefte schreiben und oft noch Einführungen machen.

Ausgrabungen

Die musikwissenschaftliche Arbeit spielt ja dann doch noch eine weitere Rolle für den Dirigenten: Sie beherrschen ja nicht nur das große Repertoire, sondern sind auch bekannt dafür, dass Sie Werke ausgraben: Etwa die späten Schubert-Fragmente, die Sie wiederentdeckt und als Dirigent vorgestellt haben, oder die sinfonische Fantasie Die Seejungfrau von Alexander Zemlinsky, die Sie ja aus verschiedenen Teilen zusammengesetzt und dann als erster quasi wieder uraufgeführt haben.

P.G.: Das Stück war verschollen. Das ist eine merkwürdige, sehr österreichische Story. Ich hatte von Egon Wellesz die wirklich interessante Oper Die Bakchantinnen in Wien aufgeführt und war mit seiner Tochter Lisi befreundet, damals schon einer alten Dame. Einmal nahm sie mich in die Nationalbibliothek Wien mit. Der dortige Bibliothekar erzählte uns, gerade sei von Zemlinskys Witwe der Nachlass aus Amerika überstellt worden, ob wir mal in die Mikrofilme reingucken wollten. Und das habe ich getan. Dann sagte Lisi Wellesz, es gebe doch noch mehr von Zemlinsky in der Nationalbibliothek. Dabei habe ich auf einem anderen Film ein Thema entdeckt, das auch in einem amerikanischen Film vorkam, aber ohne Titel. Und da war die Seejungfrau wieder zusammen. Ich habe dann das Stück mit einem Jugendorchester wieder uraufgeführt. Aus der handschriftlichen Partitur habe ich ungefähr tausend Fehler rausgeholt. Später habe ich es auch mit den Wiener Sinfonikern mehrmals gemacht und in Amerika, so hat das Stück die Runde gemacht. Wenn irgendwo in der Musik Jugendstil auf höchstem Niveau ist, dann hier. Die Durcharbeitung des Orchestersatzes hat durchaus Brahmsisches Niveau. Es ist wirklich eine bedeutende Musik.  

Bei diesen Wiederentdeckungen hat Ihnen Ihr musikwissenschaftlicher Background sicher geholfen.

P.G.: Es war – simpel gesprochen – Neugier. Und natürlich auch ein bisschen Opposition gegen die Neigung im Musikleben, sich immer mehr auf die Pièces de Résistance zurückzuziehen. Ich glaube, wir haben nun genug Gesamtaufnahmen von Beethoven-, Brahms- oder Mahler-Sinfonien. Solche Funde zu machen, hat mich immer schon interessiert. Einfach aus Neugier.

Neugier ist ein Grundwort, es interessiert Sie eben sehr vieles. Die ganze Musikgeschichte ist präsent, und vom einen gibt’s eine Anregung für das andere.

P.G.: Das hat meiner Karriere als Musiker nicht nur gut getan. Ich habe mich immer für ein bisschen zu viel interessiert, habe lange überlegt, ob ich Architekt werden soll oder auch Germanist. Die Germanistik hat sich ebenso wie Geschichte in der DDR aus ideologischen Gründen ausgeschlossen. Studiert habe ich sie trotzdem, auch Romanistik – und hatte noch Glück mit tollen Lehrern. Ich habe Ernst Bloch in Leipzig erlebt und Werner Krauss, den großen Romanisten. Und die Philosophie ist mir auch nicht ganz fremd. Und weil ich in dieser Richtung manchmal ein schlechtes Gewissen hatte, habe ich darauf bestanden, vor einer Opernpremiere wirklich sechs Wochen ständig im Theater zu sein, die szenischen Proben alle mitzumachen und möglichst gleich einzugreifen und mit Regisseuren zu diskutieren, wenn etwas gegen die Musik ging. Ich wollte den Sängern das Gefühl zu geben: Der Alte ist dabei. Für den Sänger entsteht erst mit der Handlung eine ganz genaue Vorstellung von der Funktion und der Zielrichtung dessen, was er macht.

Werktreue

Wir haben bereits kurz die „Werktreue“ gestreift. Man sagt oft: Der Interpret ist der Diener am Werk. Würden Sie dies unterschreiben oder aber zumindest relativieren?

P.G.: Ganz allgemein würde ich sagen: Das ist schon unser Auftrag, wir sollten dienen. Die Werke sind größer und auch „klüger“ als wir. Wir verstehen sie nie ganz und sollten immer mit dem Gefühl an sie herangehen: Diesmal werde ich dieser und dieser Dimension nicht gerecht. Schwierig ist, dass man vor dem Orchester dieses Bewusstsein, das ja Zweifel nach sich zieht, hintan stellen muss. Es bleibt keine Zeit, vor einem Orchester zu zweifeln und zum Beispiel zu sagen: Wir probieren das und das aus oder stimmen gar ab. Ich glaube übrigens, dass die erstaunlichen Ergebnisse der historischen Aufführungspraxis damit zusammenhängen, dass das im Wesentlichen mit kleinen Orchestern und Ensembles erarbeitet worden ist, wo ein intensiver Dialog zwischen dem Verantwortlichen und den Spielern noch möglich war. Dort blieb Zeit zum Ausprobieren. Für diesen Dialog ist heute in der normalen Orchesterpraxis wenig Zeit.

Dienen also zumindest in dem Sinn, dass man verpflichtet ist, immer wieder nachzuforschen: Wie hat er‘s denn wohl gemeint und wie wollte er‘s klingen haben. Auch wenn man immer dagegensetzen muss: Wir erreichen das nicht, und selbst wenn wir es erreichen würden, würde es heutzutage anders wahrgenommen werden als damals. Jeder Zuhörende hört im gleichen Konzert ein etwas anderes Werk als der neben ihm Sitzende. Man darf da nicht dogmatisieren – ähnlich wie mit der Vokabel „Urtext“. Urtext war einmal als Kampflosung in Zeiten wichtig, wo Eugène d’Albert die Beethoven-Sonaten herausgegeben und ziemlich wild drin gewirtschaftet hat. Genau genommen gibt es in der Musik keinen Urtext. Es gibt Texte, die weitgehend gesichert sind, aber jede Interpretation ist anders. Hinter den Begriffen Urtext und Werktreue steht die Nötigung, immer wieder genau hinzugucken und noch einmal nachzufragen: Was könnte das sein und wie könnte es geklungen haben? Dieser Zwang ist wichtig, wenn er nicht zum Dogma wird.

Zwischen diesen kleinen Ungenauigkeiten und der Werktreue öffnet sich ein weites Feld, das früher von den Musikern mit viel Wissen und Phantasie gefüllt wurde.

P.G.: Deshalb sind bestimmte interpretatorische Dinge auch verloren. Dazu kommt noch: Unsere spieltechnischen Möglichkeiten sind ganz anders geworden. Wie sehr hat bei Beethoven-Sinfonien auch das Moment der Mühe eine Rolle gespielt? Wie sehr ist die Grenze des Machbaren hinein komponiert? Er hat ja auch nie die Begrenzung der Instrumente elegant zu verbergen versucht. Bei Beethoven spielte der Flötist eben bis zum höchsten Ton, und wenn noch der nächsthöhere gebraucht wurde, ging er eine Septime nach unten. Da wurden die Brüche vorgezeigt. Das ist ein enormes Vertrauen in die spirituelle Tragkraft der Musik und das innere Zurechthören, durch die wir die eigentlich darin enthaltene Logik wahrnehmen. Wir sind in diesem Punkt manchmal grobe Materialisten und sagen: In der Fünften Beethoven oder in Mozarts g-moll-Sinfonie kommen die Hörner nicht mehr mit, denn plötzlich setzen sie aus. Das können wir heute leicht ergänzen. Und leider wird es auch von vielen getan. Aber dass da plötzlich etwas wegfällt, verdolmetscht dem Hörer ja auch, dass er jetzt weit von der Grundtonart weg ist. Das gehört zur Substanz der Musik. So müssen wir immer wieder im Einzelnen entscheiden, ob wir uns zu Eingriffen entschließen, selbst wenn sie so gut gedacht sind wie die Mahlerschen.

Da sind wir wieder bei dem Thema: die Grenzen spürbar machen. Denn wenn man die Grenzen spürt, erfahren wir, wie man sie transzendieren könnte. Wenn sie überwunden sind, fällt eine Erfahrung weg.

P.G.: Wir spielen das ja alles heute etwas leichter. Denken Sie an Janáček: Es sauber hinzukriegen, wenn er in ganz entfernten hohen B-Tonarten Bläser in Terzen in drei Oktaven führt, ist rasend schwer. Oder denken Sie an die Herausforderung Beethoven: Am Ende der Arietta, bevor er zum letzten Mal auf die Reprise zurückkommt, liegen zwischen den beiden Händen sechs Oktaven. Auf den damaligen Klavieren hat das wirklich nicht schön geklungen: Oben wird’s geklirrt und unten gemulmt haben. Aber das musste sein. Dahinter steht ein spiritueller Zwang, und diesen Zwang will Beethoven mit extremen Mitteln auf den Hörer übertragen. Die Heimkehr in die Mitte, wenn das Thema zum letzten Mal kommt, ist daraufhin ein ungeheurer Vorgang, weil die Musik in dieser entsetzlichen Konstellation – klirrende Höhe, mulmende Tiefe – ja fast schon verloren gegangen war. Das klingt heute auf einem modernen Flügel alles besser, aber wir spüren dabei kaum mehr, wie sehr wir an der Grenze der Musik angekommen waren.

Thomas Meyer studierte Musikwissenschaft und Literaturkritik an der Universität Zürich. Er arbeitet als Musikjournalist und war langjähriger Mitarbeiter des Tagesanzeigers Zürich, heute ist er tätig für Radio DRS2, die WochenZeitung, dissonance, SMZ sowie weitere Zeitungen, Fachzeitschriften und Rundfunkanstalten.