Hèctor Parra

Oberfläche und Ereignis
Von Markus Böggemann

Komponieren ist das ästhetisch sinnfällige Gestalten vergehender Zeit. Damit aber Zeit überhaupt als etwas Form- und Gestaltbares wahrnehmbar wird und ihr Vergehen einer einzigartigen ästhetischen Erfahrung gleichkommen kann, muss sie sich materialisieren, muss ihr ein Körper gegeben, ein Volumen zugemessen werden. In der Musik Hèctor Parras vollzieht sich diese Verkörperung mit technischer Avanciertheit und struktureller Konsequenz. Zugleich gibt das klingende Phänomen in mancherlei Hinsicht Auskunft über die Affinität des Komponisten zur bildenden Kunst: In Karst – Chroma II (2006) für großes Orchester steht am Beginn ein dichter, homogener Anfangsklang, der im weiteren Verlauf des Stückes zunehmend aufgelöst, ausgewaschen wird, ähnlich der titelgebenden Felsformation. An seine Stelle tritt sukzessive eine Folge rhythmisch und klanglich dissoziierter Abschnitte, die, formal eher additiv angelegt, in Extrembereiche instrumentalen Ausdrucks vorstoßen.

 

Die Vorstellung, die hinter einer solchen „géomorphologie acoustique“ steht, ist eine genuin plastische: Das musikalische Material behauen wie einen Stein, das frappierende, individuell geformte Detail aus einem opaken Grund hervormeißeln – dieser Maxime folgt Hèctor Parras Musik auch dort, wo sie sich nicht explizit von geologischen oder bildnerischen Metaphern leiten lässt. Seine 2009 uraufgeführte Kammersymphonie Nr. 3, Sirrt die Sekunde, inszeniert das Verhältnis zwischen klingend präsenter Oberfläche und einer sie durchbrechenden Epiphanie des Augenblicks im Anschluss an die Dichtung Paul Celans. Dabei beruht die Entwicklung des Stücks auf der zeitlichen Ausdifferenzierung sowohl der einzelnen Stimmverläufe als auch der sie bestimmenden instrumentalen Timbres: Klang, verstanden als komplexe, mehrere Parameter umgreifende Kategorie, dient hier nicht nur der Einkleidung eines abstrakten Tonsatzes, sondern ist in sich selbst vielgestaltig und fluktuierend. Eine solche potenzierte Polyphonie der Klangfarben prägt auch Form und Dramaturgie von Hèctor Parras bislang wohl ambitioniertestem Projekt, der Kammeroper Hypermusic Prologue (2009) für zwei Sänger, acht Instrumentalisten und Elektronik auf ein Libretto der Physikerin Lisa Randall. Der kompositorische Zugriff auf unterschiedliche Handlungsebenen, das Agieren in einer mehrdimensionalen „Raum-Zeit“ mögen dabei aktuelle Entwürfe der theoretischen Physik reflektieren; darüber hinaus aber geschieht hier und in der Musik Hèctor Parras generell, was Kunst in ihrem Kern ausmacht: Sie lässt die sinnliche Fülle der verstreichenden Gegenwart erfahrbar werden.