Marko Nikodijevic

Am Beginn stehen zwei Dinge, die wir alle haben – einen Computer und die Vergangenheit – um damit, wenigstens anfänglich, etwas jenseits des rein Persönlichen zu suchen. Persönliches wird, wenn nicht negiert, so wenigstens zurückgestellt, und das erste vorkompositorische Tun besteht oft darin, ein existierendes Musikstück (eine Partitur, eine Tonaufnahme, oder beides) auszuwählen und es digital zu manipulieren: es zu strecken, zu komprimieren, zu schichten, und daraus ein Kompositionsraster zu bilden, das nicht lediglich den Geschmack des Komponisten spiegelt. Die Vergangenheit, um die es geht, ist daher eine kollektiv zugängliche, ein Archiv musikalischer Bezugspunkte, nicht dagegen die individuelle Vergangenheit aus Erinnerung oder Erfahrung – dieser Musik geht es nicht um ‘Erfahrenes’, sie ist nicht anekdotisch. Gleichwohl ist sie zutiefst individuell und unverwechselbar, das bekräftigen die vielen Fingerabdrücke, die ihr aufgeprägt sind: die ‘Möwenschrei’-Glissandi, die im Streichersatz auf das Ende so vieler Stücke zu vorherrschen; die fraktalen Strukturen, die durch die Zeit fortschreiten und zugleich nirgends hin gehen; die charakteristische Mischung aus Energie und Sentiment, aus sich überschlagendem Tempo und langsamem Wiederklang, als ob die Musik eben in dem Bestreben, jeglichem Stil zu entrinnen, Stil gerade gefunden hätte. Ihr Komponist heißt Marko Nikodijevic.

Bereits die Titel seiner Werke drücken viel hiervon schon aus: Wie die Musik mit der ihr eigenen Stimme sich in andere Komponisten, andere Werke einflicht, oder heraussprießt aus ihnen (‘… la lugubre gondola’, ‘… o vos omnes’); wie unter diesen Komponisten die Gegenwart Gesualdos und Viviers einen Schuss aus biografischem Skandal hinzugibt, während gleichzeitig die Art und Weise, wie die Musik erzeugt wird, darauf ausgerichtet erscheint, Intertextualität strikt auf den musikalischen Gehalt zu begrenzen; vielleicht auch, wie jeder Titel sich um einen gliedernden Schrägstrich (“/”) herum anordnet, ganz so, als ob zwar jede Titelzuweisung eigentlich eine vollkommen regelmäßige, wiederholbare Prozedur sein müsste, dennoch aber auch jeder Titel für sich ein ‘Einerseits/Andererseits’ geltend machen wollte. Schon der Name des ersten Ensemblestücks: music box/selbstportrait mit ligeti und strawinsky (und messiaen ist auch dabei) ist hierfür typisch, so, wie er das Prozesshafte und die Subjektivität zueinander stellt – obgleich ‘selbstportrait’ wohl vor allem ironisch gemeint ist, da die Formulierung auf Ligetis eigenen ähnlichen Titel verweist. (In späteren Werken wird Nikodijevic weiterhin von sich selbst gleichsam in der dritten Person sprechen.) Mit diesem Stück bildete sich auch ein Muster für die Arbeitsweise heraus: seine bereits eindrucksvolle erste Fassung (2000–2001) wurde in den Jahren 2003 und 2006 überarbeitet und verfeinert; und in gleicher Weise wurde chambres de ténèbres/tombeau de claude vivier (2005) im Zeitraum 2007-2009 durchgreifend umgeschrieben, und sein Schlußsatz wurde im Winter 2012-2013 sogar noch weiter überarbeitet. In solchem Zusammenhang bildet das orchestrale GHB/tanzaggregat eine Ausnahme, entfaltete es sich doch Ende 2011 in weniger als drei Wochen zu gültiger Form als kurzes (sechsminütiges) Konzerteröffnungsstück von großer Durchschlagskraft. Doch gilt das Zurückkehren zu Ideen für Nikodijevic ganz grundsätzlich als Prinzip bei Neuschöpfungen wie Umarbeitungen, und man wird sagen können, dass sein Werk sich anscheinend sowohl durch innere Bezüge zwischen den Kompositionen definiert, wie durch die Entschlossenheit, jeder von ihnen exakt ihre Richtigkeit zu geben.

Wenngleich auch GHB/tanzaggregat die ‘archivalische’ Ausrichtung der früheren Werke fortsetzt, indem es Khachaturians Balettmusik als eine Parallele zur getanzten Körperlichkeit im modernen Nachtklub nahelegt, so liegen in der Richtung, die andere Werke der jüngsten Zeit weisen, sowohl Kontinuität wie Wandel, und dazu eine fortgesetzte Ambivalenz gegenüber der Idee selbst, ‘einen Stil zu entwickeln’. Zumeist fügen sie ’electronica’ zu ihrer instrumentalen Textur hinzu und verweisen damit auf eine zunehmend beim Wort genommene Beschäftigung mit den Klangwelten und stilistischen Unterkategorien (dub, glitch, minimal techno …) der Klubkultur. Wohl tritt Gesualdo immer noch in Erscheinung, wie (zunehmend) auch Klangschnipsel aus Volksliedern; doch eingehender noch als je zuvor ist die Musik befasst mit dem Aushorchen einer Welt intensiv ausdrucksvoller Langsamkeit.

Was diese jüngsten Werke mit ihren Vorgängern gemeinsam haben, ist das Vermeiden narrativer Formen zugunsten der Erforschung von Klangräumen. Dies ist eine weitere Errungenschaft digitaler Technologie, ob sie nun in Aufführungen präsent ist oder beim Komponieren eingesetzt wird zur Modellierung klanglicher Räume, wie in den ’Kammern’ der chambres de ténèbres oder dem ‘Raum’ des Klavierkonzerts gesualdo dub/raum mit gelöschter figur. In zwei solch stark gegensätzlichen Werken wirft Nikodijevics Ausbruch aus Stilgewohnheiten womöglich den größten Gewinn ab: das erste entwickelt sich aus einer ausdrucksvollen mikrotonalen Melodie heraus zu schneller, außerordentlich erregter Musik, und das zweite überzieht sein langsames Fortschreiten in Akkorddreiklängen mit einem exquisiten pianistischen Gespinst. Die Kompositionengesualdo abschrift/antiphon super o vos omnes und ketamin/schwarz sind in ihrer physischen Präsenz so überwältigend dimensioniert, dass dies fast ihre Wahrnehmung als Musik überblendet, und der Komponist hat dafür selbst die Bezeichnung ‘Klangskulpturen’ vorgeschlagen. Vermieden wird hier nicht einfach nur Stil, sondern viel überhaupt von vorausgegangener Musikgestaltung – sogar in der eigenen früheren Musik Nikodijevics. Und dennoch: in ihrer Kontinuität mit den Raumerkundungen dieser eigenen früheren Musik und zugleich ihrem Sinn für Schönheit im Wiederklang verweisen sie auf ein Werk, das sich dauernd fortgestaltet, und machen ebenso eine persönliche Stimme hörbar, die beharrlich zwischen den Fugen des Nichtpersönlichen heraustönt: eine persönliche Stimme, die sich ständig auflöst und neu bildet und darauf besteht, die Dinge einerseits so wie andererseits so anzugehen, als ob, im Versuch, nicht zu komponieren, Nikodijevic am Ende doch komponiert hätte.

© 2013 John Fallas
(Übersetzung: Hans Walter Gabler)