Pierluigi Billone

Das Unbekannte aufsuchen 
von Markus Böggemann

Man stelle sich vor, ein Komponist solle für ein bislang unbekanntes Instrument schreiben, ein Instrument, für das noch keine Spieltechnik, keine Klangvorstellung, geschweige denn ein Repertoire existiert. Was wie eine Zumutung erscheint, beschreibt in etwa die Ausgangssituation, in die sich Pierluigi Billone für sein Stück Mani. De Leonardis für vier Autofedern und Glas (2004) begeben hat. Die Erforschung der Klangmöglichkeiten und der Weisen ihrer Hervorbringung, das eigenhändige Erkunden des Instruments, bilden unter diesen Voraussetzungen einen integralen Bestandteil der kompositorischen Arbeit. Der Komponist schlüpft in die Rolle des Entdeckers, dem sich ein durch Erwartungen und Traditionen noch unberührter Raum öffnet.

Komponieren, so verstanden, bedeutet für Pierluigi Billone das Aufsuchen des (noch) Unbekannten, das Ins-Werk-Setzen einer "Mensch-Ding-Klang-Beziehung, die an einem Nullpunkt beginnen kann". Kunst wird für ihn – und für uns als seine Hörer – zu einer nicht-diskursiven, mit der Sprache nicht einholbaren Form von Erkenntnis, zum Forum einer einzigartigen und bereichernden Erfahrung: "Ein Stück im emphatischen Sinne will ein Ort sein, an dem das, was gegenwärtig wird und seinen Beziehungsreichtum entfaltet, die Stabilität dessen verändert, was bereits bekannt ist." Gleichzeitig erscheint das so konzipierte Werk als "Ort, der offen bleibt, und den dann auch andere bewohnen und nach ihren Maßgaben durchstreifen können".

Damit ist freilich nicht dem Improvisatorischen das Wort geredet: Was klingt, ist mit eminenter Präzision festgelegt; der Weg, den der Komponist durchs Neuland seinen Hörern bahnt, steht nicht zur Disposition. Wie er ihn aber bahnt, das verrät eine besondere Sensibilität: er schlägt keine Schneisen, sondern folgt den sich darbietenden Pfaden und Verzweigungen in den Hallräumen des Klanges. Gleichermaßen skeptisch gegenüber den Zurichtungen der Sprache und einer instrumentellen Vernunft, für die ein Phänomen immer nur ein "Für Anderes" ist, evoziert Pierluigi Billone in seinen Werken die Aura des ästhetischen Ereignisses, des epiphanen Augenblicks: Die Musik argumentiert nicht, sie enthüllt.

Was sich dabei zeigt, das ist von sogartiger Intensität, auch und gerade da, wo der Komponist sich in seinen Mitteln beschränkt. Sein abendfüllendes Stück für zwei Bassklarinetten 1+1=1 (2006) – der Titel spielt auf Andrej Tarkovskijs Film Nostalghiaan – integriert die Körper der Instrumente, der Interpreten und des Saales in ein mehrdimensionales Geschehen, das einerseits, so Billone, zu einem "dauerhaft unausgewogenen, unsymmetrischen", d.h. nicht-synthetisierenden Hören anregt. Andererseits aber fordert es Aufmerksamkeit noch für das kleinste Detail: in vielfachen Übergängen zwischen Luftgeräusch und Ton, zwischen Instrumentalklang, Stimme und (gesprochener, gesungener, geraunter) Sprache entspinnt sich ein Klangraum von großer Suggestionskraft, der zugleich fesselt und zur eigenen Fokusbildung einlädt. Nicht nur der Komponist, auch der Hörer soll in Pierluigi Billones Musik zum Entdecker werden.