Laudatio

Laudatio auf Aribert Reimann

von Stephan Mösch

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Lieber Aribert Reimann,
sehr verehrte Damen und Herren,

der Zufall kann ein kluger Gefährte sein. Je näher der Termin der heutigen Laudatio rückte, desto häufiger beschlich mich ein Wort aus Bachs Johannes-Passion. Es findet sich zu Beginn eines kontemplativen Bass-Ariosos und klingt fast wie Mörike: "Betrachte, meine Seel’, mit ängstlichem Vergnügen". Vergnügen der Vorbereitung auf den heutigen Tag: gewiss. Aber eben auch die Frage, wie man denn in zwanzig Minuten einen Kosmos vorstellen soll, der nicht nur ein mehr als sechs Jahrzehnte intensiv ausgekostetes Komponistenleben umspannt, sondern auch das Leben eines Pianisten und Kammermusikers und, nicht zuletzt, das eines Pädagogen und Musikvermittlers?

Der Zufall – wie gesagt: ein kluger Gefährte – verwandelte das ängstliche Vergnügen in ein reines. Bei einem privaten Abendessen traf ich kürzlich, nein, nicht John Cage, aber Helmut Lachenmann. Und wie das so ist: Irgendwann konnten wir nicht mehr sitzen und wollten nicht mehr am großen Tisch smalltalken. Also wanderten Lachenmann und ich in einer Altbauwohnung in Berlin-Charlottenburg umher, und ich fragte ihn nach seinem Verhältnis zu Aribert Reimann. Die Stunde war fortgeschritten, die Müdigkeit auch. Trotzdem leuchtete Lachenmann. Als wir in der Küche ankamen, sagte er in seiner grandios verdichtenden Lakonie: "Der Aribert, der regt mich noch auf."

Das war das selbstbewusste Staunen eines mit allen Wassern gewaschenen Widerstandskämpfers der Neuen Musik. Und es war vollgesogen mit Bewunderung: Da ist jemand, der sogar mich noch aufregen kann. Ein Satz voll gelebter Musikphilosophie. Denn Aribert Reimann und Helmut Lachenmann sind zwar altersmäßig nur ein halbes Jahr voneinander entfernt, aber was die ästhetischen Positionen betrifft, so leben sie doch – seien wir ehrlich – in verschiedenen Welten. Beide sind dabei ganz undogmatisch. Ja mehr: Beide sind geübte Selbstzweifler und Glaubensbekenntnisverweigerer. Doch bei ihrer Selbsterneuerung, bei ihrer unermüdlichen Suche nach Wahrheit und Schönheit schlagen sie denkbar verschiedene Wege ein.

Lachenmann wirbt, leidet und wird gepriesen für seinen Umgang mit musikalischem, genauer: mit musikfähigem Material. Er hat erkundet, inwieweit Geräusche als präzise Ausdrucksmittel nutzbar sind, um Vernutztes abzustoßen. Er mahnte in Donaueschingen: "Die Musik ist tot." Das meint: In den alten Kategorien von Klang, Klangerwartung und Klangproduktion bekommt sie keine Luft mehr. Wenn er nach vielen Jahren endlich fürs Musiktheater schreibt, gibt es keine Figuren im engeren Sinn, keine Handlung. Text ist aufgesplittert in Silben und Laute. Das Mädchen mit den Schwefelhölzern lässt Ausdruck und Gesang nur quasi von der Rückseite des Notierten her aufschimmern. Eine planvoll verkehrte, zutiefst subversiv gedachte Klangwelt.

Dagegen Aribert Reimann, der nicht nur ganze Worte komponiert, sondern Sätze (wenn auch häufig fragmentierte); der Gedichte aufgreift von Emily Dickinson und Karoline von Günderode, von Celan, Hölderlin, Baudelaire, Lord Byron und vielen anderen; der – wie sollte es bei solchen Dichtern auch anders gehen? – am hohen Ton festhält; der es mit Dramen aufnimmt von Shakespeare und Strindberg, Lorca und Grillparzer; der sich im 21. Jahrhundert traut, über ein Werk "Oper" zu schreiben. Reimann versenkt sich in die psychologischen Verästelungen seiner Figuren, er lebt und leidet mit ihnen. Ohne dieses Umgetriebenwerden, diesen Lustschmerz aus Anziehung und Abstoßung würde in seinem Turmzimmer am Rande des Grunewalds gar nichts entstehen können. Ausdruck kommt bei ihm von Überdruck. Oft fasst er das in nahezu haptisch greifbare Cluster, Akkordwände, die scharf kontrastieren zu äußerster melodischer Verdichtung, Einsamkeit, Innigkeit: der einzelne Ton und die maximale Tonhäufung quasi dialektisch aufeinander angewiesen und ineinander verschränkt. In Darmstadt war Reimann nur ein einziges Mal und fuhr befremdet nach Hause. Er zweifelt nicht daran, dass ein Werk ein Werk ist, ein Orchester ein Orchester und eine Stimme eine Stimme. Er rebelliert auch nicht dagegen, sondern er nutzt das, indem er es radikalisiert. Er glaubt daran, dass Musik eine Vermittlungsinstanz sein kann und trotzdem eine immer aufs Neue offene "unanswered question". Reimann – einer der nichts dekonstruiert, aber auch nichts bedient. Einer, der gar nicht anders kann, als seinen ureigenen Weg zu gehen, oder besser: immer neu zu erkunden.

"Der Aribert, der regt mich noch auf."

Worin besteht dieses Aufregen-Können? Welche künstlerische Physiognomie steckt dahinter?

Tasten wir uns voran. Da ist zunächst Boris Blacher: der Lehrer, der Reimann auf diesen ureigenen Weg geschickt hat. Dann könnte man sagen, dass Reimanns Kunstbegriff stark von der Zweiten Wiener Schule geprägt ist. Schönberg hat bekanntlich das musikalische Kunstwerk als ein System von Wertebeziehungen verstanden, dessen Komponenten nur innerhalb dieses Systems Sinn machen und sich entfalten können. Schönberg ist auch insofern eine Bezugsadresse, als sein Kunstbegriff letztlich ein moralischer ist und sich aus ethischen Quellen speist. Stücke wie Reimanns Unrevealed für Bariton und Streichquartett oder jüngst Medea an der Wiener Staatsoper (um nur zwei herauszugreifen) sind ohne diesen Kunstbegriff undenkbar. 

Man könnte auch von einer anderen Warte aus ansetzen. Nietzsche bestand darauf, dass Kunst ihre Dignität und Bedeutsamkeit aus ihrem Selbsterneuerungswillen bezieht. In diesen Zusammenhang gehört, dass Expressivität bei Reimann nicht aus einem Vorrat verfügbarer Ingredienzien wächst, sondern aus stets neu geschaffenen, wenn Sie so wollen, idiosynkratischen Erlebnis- und Kommunikationsbezirken. 

Das alles ist wichtig. Aber es ist noch nicht spezifisch genug. 

Ich denke, wenn wir uns intensiver auf Reimanns Werk einlassen, müssen wir nach zwei Aspekten fragen: nach der Stimme und der Narration. Beides hat miteinander zu tun. 

Sie alle wissen: Reimann schreibt – wie Mozart oder Richard Strauss – für Stimmen, die er kennt. Wenn er sie noch nicht kennt, lernt er sie kennen. Er formuliert das gern umgekehrt und sagt, die Stimmen schreiben etwas aus ihm heraus. Bei der Partie des Lear und Dietrich Fischer-Dieskau war das so. Vorher haben Catherine Gayer, Ernst Haefliger und Martha Mödl vieles bei Reimann ausgelöst. Später kamen Lieder und Partien für Helga Dernesch, Christine Schäfer, Claudia Barainsky, Yaron Windmüller, Thomas Quasthoff und andere hinzu. Das heißt nicht, dass der Interpretationsspielraum für andere Sängerinnen und Sänger eingeengt wäre. Den Lear haben viele Bassbaritone und sogar Bässe verkörpert, deren Stimmprofil von dem Fischer-Dieskaus weit abweicht. Jedesmal wuchs eine ganz neue Figur daraus. Dass das möglich ist, hat mit einem dialektischem Bezug zu tun. "Objektivität durch Tiefe der subjektiven Auffassung", notiert Adorno in seinen Aufzeichnungen zur Theorie der musikalischen Reproduktion. Mit anderen Worten: Die Aufgabe der Rolle stellt sich bei jedem Stimmprofil anders, der Anspruch aber bleibt – und motiviert.

Wie komponiert Reimann für Stimmen? Bei jeder Partie anders, lautet eine Antwort. Das stimmt. Aber es wäre doch jämmerlich zu kurz gegriffen. Wichtiger, weil kennzeichnender ist das, was man mit der modernen Musik- und Theaterwissenschaft als Präsenzproduktion bezeichnen könnte, genauer: als experimentelle Präsenzproduktion. Das klingt technizistischer, als es ist. Was ist gemeint? 

Es gibt in Reimanns Opern Reihen und Grundmotive samt Varianten, thematische Setzungen und Metamorphosen, einen durchweg architektonisch gedachten Aufbau. Und gleichzeitig entwickelt dieser Komponist einen Radius des Experimentellen, wie ihn seine Kollegen durch Elektronik, Stilmix oder Multimedia-Ansätze schaffen, aus dem genuinen Medium der Oper selbst: dem Gesang. Konstruktion und Performation gehören also eng zusammen als zwei Seiten derselben kompositorischen Strategie. Die Singstimme wird nicht mit einer mal mehr, mal weniger geschickt geschriebenen, diastematischen Linie bestückt, sondern die Materialität einer Stimme ist als solche Gegenstand des kompositorischen Denkens. Damit auch ihre physische und psychische Energie, ihre Entfaltung im Raum, ihr Potenzial in Sachen Virtuosität, ihre Gefährdung, ihre Altersdisposition, ihre Unberechenbarkeit. Das gilt selbstverständlich auch für das Lied und die vokale Kammermusik.

Es geht um Interaktion. Das beinhaltet mehr als die triviale Tatsache, dass jeder einigermaßen erfahrene Komponist den Klang mitdenkt beim Schreiben. Es hat zu tun mit jener Mischung aus Körper und Sprache, deren Sinnlichkeit, ja Erotik das große Thema von Roland Barthes war. Es ist die Aisthesis des stimmlichen Vollzuges, die Reimann beim Schreiben stets präsent bleibt. Der Notentext kann davon nur unvollkommen Zeugnis geben. Aber es gehört zu Reimanns herausragenden Fähigkeiten, ihn so weit wie möglich an diese Aisthesis heranzutreiben, sie zu umkreisen mit dem Notat und sie doch in ihre Freiheit und Einzigartigkeit zu entlassen. Hier sind wir, so meine ich, bei einem entscheidenden Grund, warum Reimanns Musik aufregt – immer noch und immer wieder. Sie kann in ihrer Ereignishaftigkeit zur Provokation wachsen. So sehr, dass manche Hörer das kaum aushalten, dass sie unruhig werden und auf fast physische Weise gepackt. Noch immer gibt es welche, die ausweichen und – es wird seltener – den Saal verlassen. 

Als Zwischenbilanz formuliert: Die Singstimme tummelt sich bei Reimann nicht irgendwie unspezifisch oder komplizenhaft im Dreieck von Komponist, Interpret und Hörer, sondern sie lebt in und aus diesem Dreieck: ursächlich, dringlich, alles und alle fordernd. So entsteht Musik – nicht nur aber auch – als Situation. Und diese Situationen sind alles andere als deckungsgleich mit denen der Stücke; sie folgen ihrer eigenen Logik. Musik, wie ich eben sagte, als vielfältig verschlungene Interaktion.

Nur wenige Komponisten können und wollen sich auf einen solchen Umgang mit der menschlichen Stimme einlassen. Beethoven definitiv nicht. Reimanns Lehrer Boris Blacher auch nicht. Komponisten wie Wolfgang Rihm und Helmut Lachenmann geben offen zu, dass sie erst seit ein paar Jahren überhaupt versuchen, wirklich für Stimme im emphatischen Sinn zu schreiben. Zu Zeiten des Serialismus schlug Stimme und Text ohnehin Skepsis entgegen. Boulez, Nono und Stockhausen haben das Problem der Kompatibiliät höchst unterschiedlich gelöst. Dennoch kursierte das böse Wort vom "tonalen Rest", der der Stimme angeblich anhaftet. Daran ist wahr, dass sie sich kaum in eine durchrationalisierte Klangfaktur einpassen lässt. Genau deshalb aber ist sie für Reimann Inspiration.

Lassen Sie es mich noch anders wenden: Sinn, so lehrt uns die Hermeneutik, konstituiert sich als Bedeutung und als Empfindung. Bei Reimann wäre zu ergänzen: Sinn entsteht als Erfahrung. Genauer: als nachwirkende und alles vorangehende aushebelnde physische Erfahrung des Musikmachens und Musikhörens. Reimann peitscht Endsilben nach oben, er lässt die Stimme obsessiv nachfassen bei Intervallen, er verfremdet ihren Zeitfluss, er bietet ihr schwerelose Bögen und entdeckt sie in oft fast skulptureller Klanglichkeit. Das alles hat nichts zu tun mit tautologischer Expressivität. Es ist ein Signum genuiner Präsenz. Und es ist schwer. Es verlangt ein enormes Maß an Virtuosität von denen, die nicht einfach etwas auszuführen haben, sondern sich einbringen, einlassen müssen, damit das ästhetische Gefüge überhaupt zu Sinn und Sinnen findet.

Wo lernt man, so für Stimmen zu schreiben? Reimann hat viele Gesangsstunden erlebt, die seine Mutter gab: erst als Kind unter dem Flügel liegend und später am Flügel begleitend. Noch später dann war er pianistischer Partner großer Sängerinnen und Sänger wie Elisabeth Grümmer, Julia Varady, Doris Soffel, Dietrich Fischer-Dieskau, um nur einige zu nennen. Die Winterreise hat er sowohl mit Barry McDaniel wie mit Brigitte Fassbaender aufgenommen. Da können Sie hören, wie er durch sein Spiel die Emergenz völlig verschiedener Stimmen und Singarten fördert und fordert. Natürlich spielt da auch ein Komponist, der Bezüge schafft – Bezüge nicht als kognitiven Querverweis, sondern als sinnliche Hörerfahrung. Letzte Hoffnung aus der Winterreise etwa klingt, aufgenommen mit Brigitte Fassbaender 1988 im berühmten Abbey Road Studio von London, nach Geist und Gusto Anton Weberns: versprengte, verlorene Tontupfer im Pianissimo, komponierte Haltlosigkeit, ein Tonsatz, der seine eigene Struktur zerfetzt. Umgekehrt konnte Reimann den Liedern von Schönberg und Webern so viel melodische Schönheit und Selbstverständlichkeit entlocken, dass Schubert plötzlich ganz nah war. Der Aribert, der regt eben auf. Auch in seinem zweiten Beruf, als Pianist.

Ich muss noch mal zurück. Nach der Stimme wollten wir fragen, aber auch nach der Narration. Ich kann das nur andeuten. Als Reimann zu komponieren begann, war der Rückgriff auf Weltliteratur inflationär. Deswegen war dieser Rückgriff auch verpönt. Vampyrismus lautete das Verdikt. Adorno sprach – nicht zufällig in Darmstadt – darüber, was künstlerische Utopie bedeutet. Seine Antwort: "Dinge machen, von denen wir nicht wissen, was sie sind." Das wurde lange und feindselig gemünzt gegen Komponisten, die in den Bücherschrank griffen. Obwohl es doch fast alle taten und tun. Es dauerte lange (eigentlich bis in die neunziger Jahre), bis sich die Einsicht durchsetzte, dass die Originalität von Musik nichts damit zu tun hat, ob man einen Handlungsfaden beibehält oder ihn zerschnipselt. Der Begriff des Erzählens ist flexibler geworden; Fundamentalisten treten kaum noch auf den Plan. Auch Beat Furrer und Adriana Hölszky, auch Rihms Dionysos und Lachenmanns Mädchen erzählen Geschichten. Nur löst sich Narration dort vom Texttransport. Reimann geht nicht so weit. Der Mensch als singend sich äußernde und entäußernde Kreatur bleibt bei ihm das Maß der Dinge. Texte ziehen ihn an als Gleichnisse, auf dass er sie verwandeln kann in Musik, der nichts gleicht. Linearer Logik rennt er dabei so wenig hinterher wie semantischer Eindeutigkeit. Vielmehr lässt uns seine Musik mit Ohren greifen, wie Polyzentrik im scheinbar Linearen steckt und Narratives im Konglomerat. 

Reimanns Experimente gelten genauso den Stimmen der Instrumente. Vier präparierte Klaviere stehen bei Bernarda Albas Haus im Orchestergraben. Deren Saiten werden auf alle erdenklichen Arten gestrichen, gezupft und geschlagen. Bläser und zwölf Celli gruppieren sich darum, sonst keine Streicher. Da werden Klangräume zu Sinnräumen und Sinnräume zu Erlebnisräumen. Oder denken Sie an die penibel strukturell und doch poetisch auskomponierte Drehbewegung im Orchesterstück Spiralat Halom. Auf vieles wäre hier noch hinzuweisen, etwa auf Reimanns Auseinandersetzung mit der Romantik, die mit dem Sich-Einlassen auf Kunst als Totalität zu tun hat, und die von Wolfgang Rathert eindringlich beschrieben wurde.

Sinnräume, das bedeutet für Reimann keineswegs eine vordergründig politisch eingreifende Musik. Wir haben es mit einem Berliner des Jahrgangs 1936 zu tun. Das ist eine skeptische Generation – eine, die noch erlebt hat, wie Kunst instrumentalisiert wurde, und die heute umso schmerzlicher erlebt, wie Kunst von medialer Simplifizierung bedrängt, sogar ausgegrenzt wird. Wie bei der Fernsehübertragung des sogenannten "Echo-Klassik" Reimanns Musik zusammengestrichen, ihrer Aura und ihres Zusammenhangs beraubt wurde, das bleibt ein schändliches und alarmierendes Zeichen.

Musik ist bei Reimann Ausdruck eines permanent angestrengten Gegenwartsbewusstseins. Gerade weil er dabei Zeitgeschehen ausblendet, kann er bisweilen visionär in die Zukunft schauen. Einige von Ihnen werden sich erinnern: Melusine kam 1971 in Schwetzingen heraus, ein Stück, das um die Natur und deren Gefährdung kreist. Das war fast zehn Jahre, bevor die Grüne Partei gegründet wurde und Öko-Bewusstsein sich langsam durchzusetzen begann. Melusine wird bis heute oft gespielt, und sie muss ja auch gespielt werden, denn ihre Thematik ist aktueller denn je. Bei der Produktion der Semperoper in Dresden gelang einer Schülerin von Reimann der große Durchbruch: Claudia Barainsky. 

Damit bin ich abschließend noch kurz bei seinem drittem Beruf, dem des Pädagogen. Er hat ja, ähnlich wie Kurtág und Strawinsky, nie Komposition unterrichtet, obwohl ihm das oft angetragen wurde. Er hat junge Komponisten stets gefördert und auch persönlich beraten. Aber an der Hochschule – erst in Hamburg, dann in Berlin – hat er mit Interpreten gearbeitet, hat Liedduos geformt und vor allem ein untrügliches Gespür dafür gehabt, welche Stücke welche Stimme und welches Duo in welchem Moment am kreativsten herausfordern. Zwei Generationen von Studierenden hat er an das Lied des 20. Jahrhunderts herangeführt und ihnen damit Türen geöffnet auch zu Musik, die vorher entstanden ist. An der Universität der Künste in Berlin wird das fortgesetzt (durch Axel Bauni). Hochschulen, die auf solche Wege verzichten, sind zu bedauern. Ihre Absolventen erst recht. Denn die Horizonte verschmelzen, wie man mit einem Wort von Gadamer sagen könnte. Nur: Viele Gesangslehrer wollen das nicht wahrhaben. Es ist doch absurd, dass eine Pamina semesterlang an der g-moll-Arie herumdoktert, statt sich an der Ausdrucksdichte von Szymanowski oder Krenek oder Samuel Barber zu messen, wonach der Umgang mit Bach oder Mozart technisch, musikalisch und auch emotional viel leichter wird.

Aribert Reimann hat sich übrigens keineswegs nur die fast fertigen Studenten herausgepickt. Nein, sein Sensorium ließ sich gerade von denjenigen reizen, bei denen noch vieles verschüttet war. Mit nachtwandlerischer Sicherheit erkennt er Töne und Takte, die von Natur aus authentisch gelingen. So konnte er künstlerische Ergebnisse herausholen, die niemand – nicht einmal die Betroffenen selbst – für möglich gehalten hätten. Studenten werden ja leider oft missbraucht, um die Eitelkeit ihrer Pädagogen zu befriedigen. Sie sind Mittel zum Zweck – bei karrierebewusst aufsteigenden Gesangslehrern genauso wie bei Sängern, deren Kalender allmählich ausdünnt. Reimann hatte diese Art von Selbstaufwertung nie nötig. Im Gegenteil: Er hat sich im Unterricht völlig aufgegeben, er hat (mit Brahms zu sprechen) Urlaub gemacht vom gequälten Ich des Komponisten, sich bedingungslos auf sein Gegenüber eingestellt und so enormes Potenzial freilegen können.

Meine Damen und Herren, ich bin am Schluss und empfinde mehr denn je, wie beschämend wenig sich ein solches Lebenswerk mit Worten umreißen lässt. Es lebt in den Menschen, die sich für Reimanns Musik öffnen, es lebt in denen, die seine Interpretationen hören, und es lebt in der praktischen Arbeit seiner Schüler. Eines gilt für alle Tätigkeiten des diesjährigen Ernst von Siemens Musikpreisträgers: Als Komponist, Pianist und Pädagoge diktiert er keine Wirkung, sondern öffnet die Wahrnehmung. Das ist ein grundsätzlicher Punkt, an dem er sich mit Helmut Lachenmann, einem anderen Preisträger, trifft. Sie haben längst bemerkt, dass meine Polarisierung zu Anfang eine grob vereinfachende war, nicht mehr und nicht weniger als ein heuristisches Instrument. Die beiden werden mir das nachsehen.

"Der Aribert, der regt mich noch auf" – das war unser Ausgangspunkt. 

Möge er noch lange die Kraft haben, uns alle aufzuregen.

Ich danke Ihnen!