Ernst von Siemens Musikpreis 2013

Laudatio für Mariss Jansons
von Thomas Hampson

Guten Abend meine Damen und Herren, 
Dearest Mariss and Irina,

Nicht alle Jugendträume gehen in Erfüllung – und manchmal ist es auch gut so. Oder könnten Sie sich, meine Damen und Herren, Maestro Mariss Jansons als Fußballspieler vorstellen? Aber mit acht Jahren wollte er partout Fußballer werden, und Talent muss er gehabt haben, sonst hätte nicht der Trainer der Rigaer Fußballmannschaft „Daugawa“ seine Eltern aufgesucht und ihnen versprochen, aus ihrem Sohn einen erfolgreichen Fußballspieler zu machen. Die wollten davon allerdings nichts wissen. Eine Ironie des Schicksals, dass Mariss Jansons heute Chefdirigent in zwei Städten ist, die mit Ajax Amsterdam und Bayern München zwei der weltbesten Fußballmannschaften haben. Wem er wohl die Daumen drücken würde, wenn sie gegeneinander antreten? Mariss Jansons hat darüber nie gesprochen. 

Der Musikwelt wäre jedenfalls viel verloren gegangen, hätte sich der junge Mariss durchgesetzt und seinen Traum von einer großen Karriere als Sportler verwirklicht. Aber hätte das gegenüber seiner eigentlichen Berufung, der Musik, Bestand gehabt? Man darf es bezweifeln. Schon als Kleinkind hatte er nichts anderes im Kopf als Musik. Aus Nadeln, Knöpfen und Holzstücken baute er sich ein Orchester, das er selbst dirigierte. Natürlich aus einer Partitur, auch wenn er sie noch nicht lesen konnte. Selbst wenn er einmal krank war, ließ er nicht vom Dirigieren. Er hatte auch schon klare Vorstellungen von den Stücken, die er mit seinem Phantasie-Symphonieorchester aufführte. Das einzige Orchester, das ihm nicht widersprochen hat, soll er später einmal gesagt haben.

Mit der Bühne, welche erst recht bei ihm die Welt bedeutet, ist Jansons schon in frühester Kindheit in Berührung gekommen. Wo anders sollte er auch diese Jahre verbringen, wenn der Vater im Theater von Riga dirigierte und seine Mutter dort sang, beide aber keinen Babysitter für ihren Sohn wollten? Kein Wunder, dass er bald das gesamte Repertoire des Hauses kannte und sich die Namen sämtlicher Musiker einprägte.  Übrigens: eine Eigenschaft, mit der er in späteren Jahren zahlreiche seiner Orchester verblüffen sollte.

Riga – man kann es in einem bewegenden Film sehen, der zu seinem 70sten. Geburtstag gedreht wurde - war eine der glücklichsten Episoden im Leben von Mariss Jansons. Hätte er es entscheiden können, wäre er von hier nicht weggezogen oder zumindest länger dort geblieben. Aber mit dreizehn Jahren war Schluss. Das konnten auch zahlreiche Tränen nicht verhindern. Vater Arvid Jansons, der neben dem legendären Jewgenij Mrawinski zum Dirigenten des besten Orchesters der UdSSR, den Leningrader Philharmonikern aufgestiegen war, wollte, dass endlich auch seine Familie nachkommt. Für den jungen Mariss war dies schon deswegen eine schwierige Situation, weil er kaum russisch konnte – abgesehen davon, dass er aus dem geliebten Freundeskreis gerissen wurde. Bald wurde er aber auch in Leningrad, wo er die Musikschule und anschließend das Konservatorium besuchte, heimisch. Rückschauend betont er, könne er dem Herrgott nur danken, dass er ihn so geführt hat. Beschützt muss ihn der Herrgott übrigens schon von Anfang an haben, denn seine Mutter musste ihn heimlich im jüdischen Ghetto von Riga auf die Welt bringen. Dass sein Großvater und sein Onkel von den Nazis umgebracht wurden, hat er erst viel später von seinen Eltern erfahren. Beide sind ihm bis heute Vorbild – die Mutter, eine aufgeschlossene Jüdin, die ihn lutherisch taufen ließ und ihm Werte wie Ethik, Verantwortungsgefühl und Gewissenhaftigkeit beibrachte, und der Vater, der ihm mit seinem Leben vorzeigte, dass nur harte Arbeit zum Erfolg führt. Ohne Arbeit, vor allem ohne Dirigieren könnte er sich ein Leben nicht vorstellen. 
Eine Einstellung, die seine ganz nach oben führende Karriere erst ermöglicht hat. Ohne sie wäre er bei den grossen Schwierigkeiten, die sich diesem Hochbegabten anfangs in den Weg stellten, gescheitert. Als 1968 Herbert von Karajan mit seinen Berliner Philharmonikern erstmals in Leningrad gastierte, leitete er ein Seminar mit 12 angehenden Dirigenten. Jansons, der Jüngste unter ihnen, fiel ihm sofort auf. Er wollte, dass er bei ihm weiterstudiere, aber selbst ein geharnischter Brief an die damals allmächtige Kulturministerin der UdSSR, die gefürchtete Jekaterina Furzewa, nutzte nichts: Jansons durfte nicht in den Westen ausreisen. Zumindest nicht zu Karajan. Wenig später ermöglichte ihm ein Austausch, ein Studienjahr in Wien beim berühmten Dirigentenlehrer Hans Swarowsky, aus dessen Meisterschmiede auch Claudio Abbado, Zubin Mehta oder Giuseppe Sinopoli kamen.       

Dieses Jahr in Wien hat den in der UdSSR auf höchstem Niveau ausgebildeten Mariss Jansons künstlerisch vermutlich am stärksten geprägt. Täglich war er neben dem Studium bei den Professoren Hans Swarowsky, Karl Österreicher und Friedrich Cerha bei Proben oder Aufführungen in der Staatsoper oder im Konzert. Er hat Karajan mit den Beethoven-Symphonien im Musikverein und, am selben Abend, Bernstein mit „Fidelio“ im Theater an der Wien gehört, aber auch den damals gerade wieder nach Wien zurück gekehrten Josef Krips. „Ich habe mich wie im Paradies gefühlt“, hat Jansons diese Zeit einmal beschrieben. Dass er von diesen vielen Stehplatzbesuchen mit Blut unterlaufenen Sohlen in die Heimat zurückgekehrt ist, erwähnt er stets nur nebenbei. „Wer ein Musiker werden will, der muss schuften. Was man früher mit Strenge und Disziplin erreichte, das erreicht man heute eher durch die freie Entfaltung der Persönlichkeit“,  kommentierte er unlängst zur heutigen Situation.

Nach seinem Erfolg  beim Herbert von Karajan Dirigentenwettbewerb 1971 wurde Jansons Assisten, aber nicht, wie es die Statuten vorsahen, bei Herbert von Karajan, sondern bei Jewgenij Mrawinski, der den jungen Dirigenten nach Leningrad zurückholte. Dessen strenge, unnachgiebige Art, dessen völliges Aufgehen in die eigentliche Sache, die Musik, sein striktes Ablehnen von Äußerlichkeiten oder gar Personenkult sind ihm bis heute Vorbild. Bis 1999 wirkte Jansons, der wie sein Vater bald zum zweiten Dirigenten dieses exzellenten Klangkörpers aufstieg, bei den Leningrader Philharmonikern. Von 1991 bis 2000 lehrte er zusätzlich Dirigieren am Leningrader Konservatorium.

Bekannt wurde er einer breiteren Öffentlichkeit aber nicht durch seine Arbeit in Leningrad – heute wieder St. Petersburg, wo er seinen Lebensmittelpunkt hat –, sondern durch sein Engagement als  Chefdirigent des Oslo Philharmonic Orchestra. Innerhalb von zwanzig Jahren führte er das, bis dahin außerhalb Norwegens wenig bekannte Orchester, an die europäische Spitze und spielte mit ihm viele von Publikum und Kritik gefeierte, mit zahlreichen Preisen bedachte Platten ein, vor allem sämtliche Tschaikowsky-Symphonien, die bis heute eine Referenzaufnahme bleiben.

Dabei hatte er auch in diesem Zusammenhang mit Widrigkeiten zu kämpfen. Die Sowjetverantwortlichen untersagten ihm einen Vertrag zu unterfertigen und erlaubten ihm nur zwei Arbeitsperioden obwohl die doppelte Anzahl mit dem Orchester vereinbart war. Aber irgendwie gelang es, diese Klippen zu umschiffen. Der unbändige Wunsch zu dirigieren und dabei das Beste zu leisten, ließ Jansons diese schwierigen Jahre überstehen. Erst mit dem politischen Tauwetter zwischen West und Ost wurde alles leichter.

1992 wurde er für fünf Jahre Erster Gastdirigent des London Philharmonic Orchestra. 1997, drei Jahre bevor er seine Tätigkeit in Oslo beendete, verpflichtete ihn das Pittsburgh Symphony Orchestra als Musikdirektor. Wie der Manager des traditionsreichen Orchesters damals betonte, „Gerade rechtzeitig“, „denn jetzt führt der Weg von Mariss noch weiter, ganz nach oben.“ Er sollte Recht behalten.

Als Jansons am Ende einer konzertanten LA Bohème-Aufführung in Oslo mit einem Herzinfarkt zusammenbrach, war dies ein Schock für die Musikwelt und eine Zäsur in seinem Leben. Erst recht, als er wenig später einen zweiten erlitt. Er sehe keinen Sinn in seiner Aufgabe als Dirigent, wenn er sie nicht hundertprozentig erfüllen könne, ließ er die um ihn besorgten Ärzte wissen. “Er sei Druck seit seiner Kindheit gewohnt und besitze einen großen Sinn für Verantwortung”. “Er müsse”, so sein unumstößliches Credo, “von sich mindestens so viel fordern wie von seinen Musikern”, entgegnete er ihren wohlgemeinten Ratschlägen, dass er künftig kürzer treten solle.

Seine Rückkehr verdankt Jansons neben der Kunst der Ärzte und seinem unbändigen Willen, bald wieder am Pult stehen zu können, vor allem seiner Frau Irina. Schön, diskret, gleichzeitig bestimmt, nimmt sie ihm alles ab, was ihn belasten könnte. Stets ist sie da, an seiner Seite, wo Mariss sie braucht.    

As I was thinking of the appropriate anecdote to describe their remarkable dualisam, I suddenly remembered one of the most passionate opera moments written – first by Irina’s landsman Pushkin and hallowed in music by Janson’s idol Tchaikovsky. In the third act of Eugene Onegin, prince Gremin – otherwise unnoticed in the dramatic narrative – echos the sentiments of those who have found profound life orienting love. He says in short:

“Love is no respecter of age, its transports, bless alike, those in the bloom of youth yet unacquainted with the world - and the grey headed warrior tempered by experience!”

…and he continues:

“She shines like a star in the night's darkest hour, in a pure, clear sky, and to me she always appears in the radiant, radiant nimbus of an angel!”

We thank you Irina that you make Mariss possible.

Heute konzentriert sich Mariss Jansons vor allem auf seine Aufgaben als Chefdirigent zweier exzellenter Klangkörper, des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks und des Königlichen Concertgebouw Orchesters Amsterdam, die er beide an in der Weltspitze etabliert hat. Aber selbst nach einem umjubelten Konzert oder einer ebenso gefeierten Opernvorstellung, wofür er in den letzten Jahren bedauerlicherweise nur selten Zeit gefunden hat, zeigt er sich selten zufrieden. „Es geht immer noch besser“, entgegnet er gerne seinen begeisterten Gratulanten. Nur wenn man immer nach Höherem strebt, gelinge es das Außerordentliche zu erreichen.

Nur wenige Dirigenten verfügen über ein so breites Repertoire wie Mariss Jansons. Allein seine, mit einer Vielzahl begehrter Preise, ausgezeichnete Discographie reicht von der Wiener Klassik bis zur Gegenwart. Man fragt sich, wann Jansons die Zeit für das Studium dieser Werke findet? Im Konzert reicht die Palette der von ihm dirigierten Werke ja sogar noch weiter als bei seinen Einspielungen. Schließlich berücksichtigt er in seinen thematisch wohl überlegten Programmen immer die spezifischen Möglichkeiten und Vorlieben der Orchester, mit denen er auftritt. Dazu zählen neben seinen beiden Klangkörpern in Amsterdam und München, vor allem die Wiener und Berliner Philharmoniker, zu deren besonders geschätzten, mehr noch: geliebten Gastdirigenten er seit Jahren zählt.

Aber egal, wo er dirigiert, seinen Musikern schenkt er nichts. Er probiert so lange, bis eine Phrase, eine melodische Linie seinen Vorstellungen entspricht und mit größtmöglicher Präzision und Plastizität modelliert wird. Selbst bei scheinbar längst Bekanntem gelingt es ihm neue Facetten herauszuarbeiten, auf bisher kaum wahrgenommene Einzelheiten hinzuweisen ohne den großen Bogen zu vernachlässigen. Aber bei aller Genauigkeit, die er fordert, zeigt er immer Verständnis und Achtung für die Musiker, mit denen er arbeitet. Ich habe es selbst oft erlebt: Es ist faszinierend, wie Jansons Musik erklärt, wie er versteht, seine Begeisterung auf andere zu übertragen, so dass man harte Arbeit bald nur mehr als Vergnügen, ja als willkommene Erweiterung des eigenen Horizonts wahrnimmt. So erging es auch mir bei unserem ersten gemeinsamen Musizieren. Die wechselseitige Leidenschaft für die Musik Mahlers hat unsere Freundschaft begründet. Sein geradezu selbstverständlicher Zugang zu Mahlers Musik macht Mahlers Welt unwiderstehlich. Das ist ein Erlebnis, eine seltene Kunst.

Wenn Jansons von sich sagt, dass er „den Kopf eines Letten, aber das Herz eines Russen hat“, dann spielt er damit auch auf seine Lebenseinstellung an. Disziplinierte Leidenschaft und leidenschaftliche Disziplin.

Unstillbar sind auch seine Neugier und sein Lerneifer. Nicht nur sein Wissensdurst ist schier unstillbar, auch seine Probenleidenschaft um das vom Komponisten gewünschte Ideal zu erreichen. Niemals verfällt er in Routine. Schließlich gelte es immer wieder die Tradition und die eigenen Überzeugungen in Frage zu stellen. Er nutzt jede Gelegenheit, um Kollegen bei ihrer Arbeit, sei es in Proben oder bei Aufführungen, zuzusehen. Aber auch wenn einer seiner Schüler auftritt, kann man Jansons unter den gespannt zuhörenden Besuchern im Publikum finden.

Von Victor Hugo stammt der Satz: „Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber es unmöglich ist zu schweigen“.

Mariss, yours is a conciousness of the spheres, where the immortal vibrations of life, heard in a language we call music, echos in those, of any time, who listen.

Wir feiern mit Dir heute abend den Ernst von Siemens Musikpreis 2013 und danken Dir zutiefst für Deine grosszügige Widmung. Möge dies den Grundstein für ein neues Heim für Dein grossartiges Orchester legen.

Your time, your now, is our heard humanity.

We love you.

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