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Herausforderung, Einspruch und multiple Identitäten

Gedanken zu Olga Neuwirths hybrider „Art-in-Between“

von Stefan Drees

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Die wichtigste Triebkraft ihrer künstlerischen Tätigkeit, so formulierte Olga Neuwirth 2015, bestünde darin, sich „von den kleinen und den großen Dingen in der Welt“ anregen zu lassen. Folgt man der hier anklingenden Neigung, lustvoll über den Tellerrand dessen zu schauen, was landläufig dem zeitgenössischen Musikbetrieb zugerechnet wird, begegnet man einem unüberschaubar vielseitigen, der Kategorisierung widerstrebenden Schaffen: Denn obgleich sich Neuwirth primär als Komponistin versteht, ist das Komponieren doch seit jeher Bestandteil eines die Grenzen zwischen den Disziplinen überschreitenden künstlerischen Wirkens, das sich weit in Ereignisräume jenseits von Konzertpodium oder Opernbühne hinein verzweigt – eines Wirkens, das neben der Musik auch Beiträge zum Film, zur Installationskunst und zur Fotografie umfasst, sich aber ebenso in den Auftritten der Komponistin als Performerin sowie in Texten und Vorträgen spiegelt. Resultat dieser Verzweigungen ist eine Kunst, in der unterschiedlichste Einflüsse aus Literatur, bildender Kunst, Musik, Architektur, Geistesgeschichte, Naturwissenschaft und Alltagswirklichkeit aufeinanderprallen und – immer um die existentiellen Befindlichkeiten des Menschen kreisend – zu Gebilden voll abgründigen Humors und zarter Poesie amalgamiert werden: eine Kunst, die dem Phänomenbereich des Hybriden nachspürt und als „Art-In-Between“, als Kunst zwischen allen Genres und Normen, Prozesse des Übergangs zwischen multiplen Identitäten zum ästhetischen wie inhaltlichen Leitgedanken erhebt. All dies trägt entscheidend dazu bei, dass Neuwirth mit einer der eigenständigsten und aufregendsten Stimmen aus dem unübersichtlichen Chor der aktuellen Komponierszene heraussticht.

 

Anregungen und Impulse

Ein Blick auf Neuwirths umfangreiches Werkverzeichnis lässt erahnen, wie umfassend die verarbeiteten Anregungen sind. Da sind beispielsweise all jene Werke, die sich um literarische Impulsgeber wie Gertrude Stein, William S. Burroughs, Elfriede Jelinek, Leonora Carrington, Paul Auster oder Herman Melville gruppieren: Sie zeugen von einer Auseinandersetzung, die meist nicht nur inhaltliche Aspekte der Literatur aufgreift, sondern sich darüber hinaus tiefgreifend auf den Umgang mit Form und Klang auswirkt. Bezeichnend hierfür ist etwa Neuwirths Ansatz, in frühen Kompositionen wie Worddust of Minraud für vier mal vier im Raum verteilte Gesangsgruppen (1992) Burroughs’ Verfahren der Cut-up-Montage auf klangliche Zusammenhänge anzuwenden. Durch Herausbildung analoger musikalischer Verfahren entwickelt sie die Arbeit mit raschen Schnitten, abrupten Abbrüchen und Ausdrucks- oder Farbwechseln zu einem zentralen dramaturgischen Prinzip, das sie im Laufe der Jahre unter Verwendung von Loop-Strukturen differenziert und weiterentwickelt.

Mit solchen Entwicklungen geht das kontinuierliche Interesse am Film einher, das dadurch akzentuiert wird, dass Neuwirth 1986 kurzzeitig Film und Malerei in San Francisco studierte, bevor sie sich in Wien endgültig dem Komponieren zuwandte. Bezugnahmen auf kineastische Arbeiten von René Clair, Alfred Hitchcock, Chris Marker, Jack Smith oder David Lynch sind Teil einer intensiven Beschäftigung mit Filmkunst, die neben der Übertragung filmischer Techniken auf kompositorische Verfahren auch eine fruchtbare Auseinandersetzung mit experimentellen Ansätzen von Film- und VideokünstlerInnen wie Valie Export oder mit den ästhetischen Dimensionen von Animationsfilmen und Slapstick umfasst. Bereits in einem ihrer frühesten Stücke, der Komposition !?dialogues suffisants!? – Hommage à Hitchcock (Portrait einer Komposition als junger Affe I) für Violoncello, Schlagwerk, Zuspielung und neun Videomonitore (1991/92), bündelt Neuwirth solche Einflüsse zu einem Konzept, das der Medientechnologie einen hohen Stellenwert zuweist: Indem sie das Spiel des abwesenden Schlagzeugers mithilfe einer Kamera auf Monitore und Lautsprecher im Aufführungsraum überträgt, den Musiker also zu einem nur medial vermittelten Dialogpartner des Cellisten macht, unterläuft sie vertraute Hör- und Sehgewohnheiten zugunsten eines die akustischen und visuellen Ereignisse radikal neu sortierenden Geschehens. Welche essentielle Bedeutung der Film seither als Bestandteil für Neuwirths Arbeit gewonnen hat, lässt sich beispielsweise an den Bühnenwerken Bählamms Fest (nach Leonora Carrington, 1994–99) und Lost Highway (nach dem gleichnamigen Film von David Lynch, 2002–03) ablesen, deren suggestive Sogwirkung entscheidend auf einer virtuosen, für die Gesamtheit unverzichtbaren Verzahnung von Musik und filmischen Bestandteilen beruht. Die weitreichende Beschäftigung mit dem bewegten Bild zeichnet sich ferner in diversen Partituren zu Filmen unterschiedlicher Genres sowie in eigenen experimentellen Filmarbeiten ab und fließt darüber hinaus immer wieder in die Ausarbeitung visuell-akustischer Installationen ein.

Auch der Gestaltung des Raumes widmet Neuwirth seit jeher besondere Aufmerksamkeit. Ihr anhaltendes, durch Beschäftigung mit Architektur und dreidimensionaler Kunst befeuertes Interesse an entsprechenden Fragestellungen findet einerseits einen Widerhall in den räumlichen Konzeptionen vieler Ensemble- und Orchesterbesetzungen, bei denen oftmals noch die einzelnen Instrumentengruppen durch Einsatz mikrointervallischer Verstimmungen im Klangraum gegeneinander verschoben sind. Andererseits macht sich die Auseinandersetzung mit Aspekten des Raumes überall dort bemerkbar, wo Neuwirth durch Einsatz von 3D-Audioprojektionen und live-elektronischer Klangumwandlung eine am Gedanken der „fluiden Architektur“ orientierte Gestaltung von Konzertsälen realisiert. Mit Werken wie den Drei Instrumentalinseln aus „Bählamms Fest“ für  zentral im Raum postiertes Ensemble und Live-Elektronik (1999/2000), dem Film-Musik-Projekt The Long Rain für vier Solisten, vier im Raum verteilte Ensemblegruppen und Live-Elektronik (1999/2000) oder der Komposition … ce qui arrive … für zwei Ensemblegruppen, Samples, Live-Elektronik und Film (2004) stellt sie die Architektur heutiger Konzertsäle und Raumkonzeptionen des Musizierens auf den Prüfstand und macht sie zum kompositorischen Material. Den bisherigen Höhepunkt dieser Entwicklung bildet die monumentale Komposition Le Encantadas o le avventure nel mare delle meraviglie für sechs im Raum verteilte Ensemble-Gruppen, Samples und Live-Elektronik (2014/15): Die mit modernsten Verfahren im Sinn „akustischer Denkmalpflege“ durchgeführte akustische Vermessung der venezianischen Kirche San Lorenzo macht es möglich, die Akustik des Kirchenraums am Aufführungsort präzise zu rekonstruieren und seine Beschaffenheit als Ausgangspunkt für gezielte räumliche Manipulationen und permanente klangliche Transformationen zu nutzen.

Auch jenseits des Bezugs zur Akustik hat die Beschäftigung mit naturwissenschaftlichen Messmethoden und Forschungen Spuren in Neuwirths Schaffen hinterlassen. Besonders markant lässt sich dies an der Komposition Kloing! für computergesteuertes Klavier, Live-Pianist und Live-Video (2007/08) nachvollziehen, deren musikalische Zuspitzung sich durch Sonifikation von Erdbebendaten ergibt. Dieses in der Wissenschaft übliche Verfahren der Überführung von Messwerten in eine akustische Erscheinungsweise wendet die Komponistin an, um zunehmend komplexer werdende Wellen von Tonkaskaden auf die Tastatur eines computergesteuerten Konzertflügels zu schicken und damit dem live agierenden Pianisten immer größere Hindernisse bei der freien Entfaltung seines Spiels entgegenzustellen.

 

Bedeutungsreichtum

Zu den hervorstechendsten Kennzeichen von Neuwirths Komponieren gehört es, die bis in Klang und formale Dramaturgie hinein wirksamen Anregungen unter mehr oder minder deutlichem Bezug auf verschiedenste musikalische Anknüpfungspunkte zu gestalten. Auch hier herrscht eine überwältigende Vielfalt, die dem Gedanken des „In-Between“ verpflichtet ist: Erstens widerspiegelt das breite historische und stilistische Spektrum entsprechender Bezugnahmen ein kulturgeschichtliches Panorama, das von der Vokalpolyphonie der Renaissance über die Musik der Barockzeit bis hin zur Aktionskunst der Fluxusbewegung reicht. Zweitens aber finden sich seit den frühesten Werken – zur damaligen Zeit in der zeitgenössischen Musik noch als unseriös angesehen – Impulse aus diversen Genres der populären Musikkultur. Und drittens hat auch die Welt des Jazz, mit der Neuwirth bereits im Elternhaus durch die Tätigkeit ihres Vaters als Jazzmusiker in Berührung kam, deutliche Spuren hinterlassen. All diese Referenzen unterzieht die Komponistin einem von Werk zu Werk wechselnden Prozess von Rekontextualisierung und Brechung, um ihnen neue Perspektiven abzugewinnen und ein dichtes Netz aus Querverweisen daraus zu formen. Dabei arbeitet sie nicht nur seit Anbeginn ihres Komponierens allerhand Zitate und Allusionen in ihre Partituren ein, sondern besinnt sich auch auf den Einsatz von Klangerzeugern, deren Konnotationen auf bestimmte Stilistiken, Musizierhaltungen oder Bedeutungszusammenhänge verweisen. Hierzu gehören beispielsweise die dem Bereich der alten Musik entstammende Viola d’amore, die frühen elektronischen Instrumente Ondes Martenots und Theremin, die gelegentlich als Erweiterung von Ensembles eingesetzten Spielzeuginstrumente wie Kindertrompete und Kindergitarre, die Klangerzeuger aus Rock- und Popmusik wie Synthesizer, Drumset und E-Gitarre oder auch die Klangqualitäten, die durch Verwendung von Countertenören und synthetischen Stimmen Einzug in die Musik halten.

Wie einfallsreich Neuwirth mit historischen Verweisen umgeht und worauf entsprechende kompositorische Verfahren zielen, offenbart das Trompetenkonzert … miramondo multiplo … (2006). Es entfaltet sich als kaleidoskopartiges Labyrinth echter und falscher Zitate, in dem sich die Komponistin mit einem wichtigen Aspekt ihrer künstlerischen Biografie auseinandersetzt: mit dem Trompetenspiel, das sie als Jugendliche aufgrund eines schweren Verkehrsunfalls aufgeben musste. Nähert man sich dem Stück im Wissen um diesen Zusammenhang, lassen sich die vielfach aufblitzenden Hinweise auf Musik und Musizierweisen – bezogen etwa auf Georg Friedrich Händel, Gustav Mahler, Igor Strawinsky, Miles Davis oder Stephen Sondheim – als Reflexion persönlicher Erinnerungen und Erfahrungen lesen. Eingelassen in fein ziselierte Ketten aus Elementen wie Trillern, Flageoletts, Tremolo- und Glissandobewegungen treten sie, kurz auftauchenden Gedanken gleich, gelegentlich in den Vordergrund schillernder, in sich bewegter Klangflächen, um dann ebenso rasch wieder darin unterzutauchen und aus dem Fokus der Aufmerksamkeit zu verschwinden. Dennoch ist die Kenntnis biografischer Hintergründe nicht zwingend nötig, um Neuwirths Hantieren mit mosaikartigen Klangbausteinen zu erschließen: Denn sie bilden eine Art „Hörfilm“, dessen assoziativ aufgeladene Klangsplitter Angebote zur Interpretation machen und sich beim Hören auf fantasievolle Weise zu ganz unterschiedlichen, aus vielen Einzelsituationen bestehenden Klanggeschichten verbinden lassen.

Die Arbeit mit solchen Elementen verdankt sich einer auf Erkenntnissen von Kognitionswissenschaft und Neurologie fußenden Beschäftigung mit Funktionsweise und Bedeutung des Erinnerns und des Vergessens. Beide Phänomene sind für den Prozess des Komponierens und die Frage nach der Wahrnehmbarkeit musikalischer Strukturen bedeutsam, verweisen aber auch auf etwas Tieferliegendes, lässt doch die kompositorische Thematisierung von Erinnerungsphänomenen Schlussfolgerungen darauf zu, wie die Komponistin ihren eigenen historischen Standpunkt reflektiert und sich als Künstlerin in der Gegenwart positioniert. Konsequenterweise ist die Einbindung von Anspielungen für Neuwirth ein wichtiges Mittel, um die Mechanismen des Erinnerns auf unterschiedlichen Ebenen zu beleuchten, sie durch Rückgriffe auf ihren persönlichen Wissens- und Erfahrungsschatz zu formen und in Gestalt von Kunstwerken für andere erfahrbar und nachvollziehbar zu machen. Dabei nutzt die Komponistin von Anfang an die künstlerische Erkundung entsprechender Prozesse, um ihr Selbstverständnis als Künstlerin in der heutigen Gesellschaft zu beleuchten und das Vergessen von Unrecht anzuprangern.

Nicht immer ist der Blick auf den eigenen Erfahrungshorizont so offensichtlich artikuliert wie im Film zur Klanginstallation … miramondo multiplo … (2007), in dem Neuwirth unter Verwendung von Passagen aus dem Trompetenkonzert das Entstehen von Musik als einen Prozess der mühsamen Verschriftlichung imaginierter Klänge und damit als Abgleich der Realität mit Erinnertem darstellt, wodurch sie auf grundlegende Mechanismen des Produktionsprozesses aufmerksam macht. Im Orchesterstück Masaot/Clocks without Hands (2013/14) hingegen unterzieht sie die Wurzeln ihres kompositorischen Denkens einer intensiven Befragung und entwirft durch Einbindung von Fragmenten osteuropäischer Volksmusik das Panorama ihrer geografisch-kulturellen Herkunft. Das daraus resultierende Dahinströmen melodischer Splitter, in einem Werkkommentar als „geformter Fluss von Erinnerungen“ bezeichnet, geht zwar von der eigenen Person aus, berührt aber auch jenen Punkt, an dem das Private ins Gesellschaftliche umschlägt und Neuwirth ihre Verantwortung als Kunstschaffende festmacht. Denn als Überbleibsel einer durch Krieg und Verfolgung zerstörten Musikkultur verweisen die Melodiesplitter darauf, dass die Komponistin die Auseinandersetzung mit den politischen Traumata der jüngeren Geschichte als Teil ihrer künstlerischen Identität begreift. Die Zitatfragmente dienen demzufolge als klingende Mahnungen, als Hinweise auf den Verlust menschlicher und sozial-politischer Erfahrungsräume und als Appell an die Notwendigkeit des Erinnerns – eine Notwendigkeit, die Neuwirth beispielsweise auch in Gestalt kaum wahrnehmbarer Spuren von Klezmer-Musik in die Komposition torsion: transparent variation für Fagott und Ensemble (2001) und die 2018 entstandene Musik zu Hans Karl Breslauers Stummfilm Die Stadt ohne Juden (1924) eingelagert hat.

 

Herausforderung und Engagement

Die Begegnung mit Neuwirths Kunst stellt freilich eine Herausforderung dar, weil sich ihr Schaffen gegen eine Vereinnahmung durch genussvolles Zurücklehnen sperrt. Dies hängt mit der engagierten und emanzipatorischen Haltung zusammen, mit der die Komponistin in ihren Arbeiten gesellschaftliche und politische Probleme umkreist, indem sie Textwahl und musikalische Konzeptionen als Werkzeuge kritischer Stellungnahmen nutzt. Allen voran ist diesbezüglich die künstlerische Reaktion auf gesellschaftliche Schieflagen im Verhältnis zwischen den Geschlechtern zu nennen, von der insbesondere die in Zusammenarbeit mit der Schriftstellerin Elfriede Jelinek entstandenen Werke – etwa das Oratorium Aufenthalt (1992/93), das Hörspiel Todesraten (1997), das Musiktheater Bählamms Fest oder die elektronische Ballettmusik Der Tod und das Mädchen II (2000) – durchdrungen sind. Angestoßen durch ihre Erfahrungen in einer männerdominierten, zu Beginn der 1990er-Jahre weitaus offener als heute von geschlechtlich motivierten Ressentiments bestimmten Szene, zieht sich das Bewusstsein für solche Fragen beharrlich durch Neuwirths Schaffen, getragen von einem politischen Engagement, das die Thematisierung aller Formen des Machtmissbrauchs und der Diskriminierung einbegreift. Die künstlerischen Konsequenzen dieser Haltung nehmen sehr unterschiedliche Ausprägungen an; sie lassen sich an konkreten verbalen Äußerungen – etwa der Rede Ich lasse mich nicht wegjodeln, gehalten 2000 bei einer Demonstration gegen die Regierungsbeteiligung der österreichischen Rechtspartei FPÖ – ebenso festmachen wie am konstanten Interesse für Bühnengestalten, die das Andere, Widerständige verkörpern und sich den Konventionen einer in stereotypen oder diskriminierenden Denkmustern gefangenen Gesellschaft entziehen.

Letzteres wird beispielsweise in der Oper American Lulu (2006–12) sichtbar, wo Neuwirth den Wunsch nach künstlerischer Selbstermächtigung und Emanzipation einer afroamerikanischen Künstlerin vor dem Hintergrund von Rassismus und Gewalt auf der Folie einer Umarbeitung von Alban Bergs Lulu sowie unter Verwendung von Texteinspielungen Martin Luther Kings, June Jordans und Djuna Barnes’ verhandelt. Noch eindrucksvoller zeigt es sich in Neuwirths jüngster Oper Orlando (nach Virginia Woolf, 2017–19), dem ersten Auftrag an eine Komponistin in der 150-jährigen Geschichte der Wiener Staatsoper: Hier wird das Eintreten für Minderheiten und Diversität, die Bejahung nicht-binärer, multipler Identitäten nicht nur auf der Ebene des bis in die aktuelle Gegenwart fortgeschriebenen literarischen Sujets reflektiert; es durchdringt auch die gesamte Substanz des Komponierten, weil das sorgfältig aufeinander abgestimmte Miteinander von unterschiedlichem, teils semantisch aufgeladenem Material und Videoprojektionen sich in jeder Szene von Neuem der Analyse gesellschaftlicher Unterdrückungsmechanismen über die Jahrhunderte hinweg zuwendet. Die darin erkennbare Bereitschaft der Komponistin, den Finger in offene Wunden zu legen und rückhaltlos politisch Stellung zu beziehen, um jene gesellschaftlichen Normen und Verhaltensweisen zu hinterfragen, die vielerorts als Selbstverständlichkeiten gelten, trägt entscheidend zum hohen Stellenwert bei, den Neuwirths Kunst als kritische und engagierte Äußerung im Kulturbetrieb unserer Zeit einnimmt.

Die Begegnung mit dem Schaffen der Komponistin ist aber auch unbequem, weil sie die Konfrontation mit einer provozierenden musikalischen Vielschichtigkeit bis hin zur Überforderung einschließt: Die Spuren, die Neuwirth in ihren Werken legt, indem sie etwa divergierende Stilebenen aufeinanderprallen lässt, Zitate in wechselnden Graden von Erkennbarkeit einbindet oder durch Kombination von akustischen und visuellen Medien unterschiedliche Wahrnehmungsmodalitäten aufeinander bezieht, stehen immer im Dienste des Versuchs, Gewohnheiten aufzubrechen und der Verunsicherung Raum zu geben. Charakteristisch hierfür ist die Verschmelzung unterschiedlicher instrumentaler, vokaler und elektronischer Klangquellen zu einem hybriden Ergebnis, für das Neuwirth die Begrifflichkeit des „androgynen Klangs“ prägte und damit bereits in den 1990er-Jahren die Wahrnehmung ihrer Musik als „Art-In-Between“ einforderte. Die Irritation, die von entsprechenden Klängen ausgeht, unterstreicht dies nachdrücklich: Sie treten uns zwar als Einheit entgegen, entziehen uns aber immer dann den Boden unter den Füßen, wenn Herkunft und Beschaffenheit der miteinander verbundenen Komponenten mit unseren bisherigen Hörerfahrungen in Konflikt geraten und sich der Zuordnung verweigern.

Das hieraus erwachsende Verwischen von Vertrautem zugunsten des Unheimlichen kommt vor allem dort zum Ausdruck, wo Neuwirth mit multiplen Identitäten arbeitet und den Übergang zwischen Unvereinbarem in den Fokus rückt. Auf geradezu unerhörte Weise geschieht dies bereits in Bählamms Fest, wenn – ein technisches Novum zur Entstehungszeit – der Gesang eines Countertenors durch live-elektronisches Morphing in das Heulen eines Wolfes verwandelt wird, um so das Schwanken zwischen menschlicher und animalischer Existenz zu akzentuieren. Es findet sich aber auch im Schlussteil von Der Tod und das Mädchen II, wo Neuwirth die Worte einer Computerstimme mit einer weiblichen Sprechstimme überlagert und dadurch schrittweise die Identität des Sprechenden verändert. Den Anspruch, den sie mit solch ausgeklügelten Konzeptionen verfolgt, hat die Komponistin vor zwei Jahrzehnten in der für ihre Kunst zentralen Idee von HörerInnen als „Selberdenker“ formuliert: Der darin implizierte Gedanke einer Wahrnehmung als Prozess ständiger Sinnkonstruktion, bei dem – so Neuwirth 2003 in ihrer Rede zur Eröffnung des steirischen herbstes – die Musik „eben erst im Kopf jedes Zuhörers selbst zusammengestellt werden“ müsse, ist nichts weniger als eine Aufforderung an das Publikum, sich mit aller gebotenen Offenheit auf das Ereignis Kunst einzulassen und es als Mittel zu individuellem Erkenntnisgewinn zu nutzen.

Der Blick auf Neuwirths Schaffens führt nicht zuletzt auch unmissverständlich vor Augen, dass die Komponistin während der vergangenen Jahrzehnte in vielerlei Hinsicht eine Vorreiterrolle eingenommen hat. Hierin liegt die unbestreitbare historische Bedeutung ihrer künstlerischen Leistungen: Als weit vorausschauende Pionierin eines die Medien und Genres übergreifenden Schaffens hat Neuwirth zahlreiche technologische und mediale Gestaltungsmittel, die heute leicht verfügbar sind und mitunter geradezu inflationär eingesetzt werden, seit Beginn ihrer Karriere konsequent erprobt und zu unverzichtbaren Bestandteilen ihrer Arbeit gemacht. Häufig konnte sie sich dabei zwar gegen institutionelle Widerstände und Vorbehalte von VeranstalterInnen durchsetzen; doch musste sie oft genug empfindliche Seitenhiebe des konservativen Musikbetriebs einstecken und – wie die bis heute anwachsende Liste ihrer nicht realisierten Projekte veranschaulicht – bisweilen auch spektakuläre Zerwürfnisse erleben. Trotz solcher Rückschläge setzt sie mit unnachgiebiger Beharrlichkeit seit mehr als drei Jahrzehnten die vielgestaltigen Möglichkeiten neuester Technologien ein, um ihrer schöpferischen Fantasie die notwendigen Freiräume zu verschaffen. Während dieser Zeit hat sie die Auffassung vom Komponieren fundamental erweitert, um sich aus immer wieder neuen Blickwinkeln und jenseits der Grenzen traditioneller Genres mit brennenden Fragen unserer Zeit befassen zu können. Dass sich Neuwirth dabei von Anfang an zur Fürsprecherin multipler Identitäten gemacht hat und Fragestellungen verfolgte, die erst in jüngerer Zeit zum Bestandteil öffentlicher Diskurse geworden sind, macht die besondere Radikalität ihres künstlerischen Denkens aus und markiert ihre „Art-In-Between“ als Kunst des permanenten Einspruchs.