Fotos: Marco Borggreve

 

Der Musik dienen

Ein Essay von Ulrich Mosch

Text zum Download

Als der französische Pianist Pierre-Laurent Aimard 1976 von Pierre Boulez in den Kreis der Musiker des neugegründeten Ensemble intercontemporain aufgenommen wurde, war noch nicht abzusehen, dass er einmal jene außergewöhnliche Karriere machen würde, die ihn heute als Solist und Kammermusiker mit einem breitgefächerten Repertoire in die bedeutenden Konzertsäle und zu allen wichtigen Festivals der Welt führt. Achtzehn Jahre war der Pianist in dem schnell zu einem Referenzensemble für Neue Musik gewordenen Klangkörper an zahlreichen Uraufführungen, Konzerten und Produktionen mit Musik des 20. Jahrhunderts, nicht selten auch mit Soloauftritten, beteiligt. Das Ensemble mit seinen vielfältigen Aufgaben bot ihm damals den idealen Rahmen, um seinem schon früh geweckten und während der Ausbildung weiter gewachsenen Interesse an zeitgenössischer Musik nachzugehen. Künstlerisch in diesem Umfeld gereift ging er gleichwohl 1995 das Risiko ein, das Ensemble zu verlassen, um eine Solokarriere zu verfolgen und sich eigenen Projekten widmen zu können. In seinem Konzertrepertoire gesellten sich seither zur zeitgenössischen Musik nach und nach auch Werke der Romantik und Klassik bis zurück zu Johann Sebastian Bachs Musik für Klavierinstrumente.

In Aimards Werdegang ‒ der Ausbildung bei Yvonne Loriod und den Jahren beim Ensemble intercontemporain ‒ wurzeln einige Charakteristika, die seine Haltung als Interpret kennzeichnen: zunächst die Selbstverständlichkeit seines Umgangs mit Musik der jüngeren und jüngsten Zeit, die für ihn ‒ bei aller Andersartigkeit und Neuheit, welche ihr den Namen „Neue Musik“ einbrachten ‒ keineswegs durch einen Bruch oder Riss von jener der Vergangenheit getrennt ist; des weiteren ein Interpreten-“Ethos“, das an jede Aufführung von Musik, ganz gleich ob von George Benjamin, Marco Stroppa, Elliott Cater, Charles Ives, Claude Debussy, Robert Schumann oder Johann Sebastian Bach, dieselben, und das heißt: die höchsten Ansprüche stellt, eine Haltung, welche der Arbeit des Ensemble intercontemporain zugrundeliegt und eines der Motive seiner Gründung gewesen war, um endlich Aufführungen zu ermöglichen, die den Werken der Gegenwart tatsächlich gerecht werden; und schließlich ein Interpretationsansatz, der ‒ wiederum völlig unabhängig von der Art der Musik ‒ ganz auf die geistige Durchdringung des Notentextes setzt im Hinblick auf die pianistische Darstellung, was Form, Struktur und Klang betrifft.

Pierre-Laurent Aimard verkörpert einen Interpretentypus, für den es nur die Musik im Singular gibt, in Zeiten wachsender Spezialisierung und Fragmentierung des Musiklebens eine absolute Ausnahmeerscheinung. Bachs Kunst der Fuge ist aus dieser Perspektive im selben Sinne Musik wie Elliott Carters Night Fantasies, Franz Schuberts G- Dur-Sonate D 894 genauso wie Karlheinz Stockhausens Klavierstücke, Pierre Boulez‘ Troisième sonate oder George Benjamins Shadowlines. Auf die Frage, ob er als Interpret zeitgenössischer Musik einen ,anderen‘ Blick auf das klassische Repertoire habe, antwortete Aimard 2012 im Gespräch mit Cyrill Stoletzky: „Reflektieren, oder besser gesagt interpretieren bedeutet für mich, sowohl der Musik von gestern als auch der von heute zu dienen [...].“ Jede Musik fordert demnach letztlich dieselbe Haltung des Interpreten. Maßgeblich im Dienen der Musik ist Aimard dabei die Suche nach dem ihr jeweils entsprechenden Klang. Es kann dabei aber nicht einfach um Perfektion gehen. Vielmehr sei es, so Aimard, der Klang, der sich einem Stil, einem Werk annähern müsse: „Zum Beispiel sehr klar und artikuliert bei Bach, singend und intim bei Schubert, farbenreich bei Debussy, explosiv bei Boulez. Wenn das Instrument, seine Stimmung, das Spiel des Pianisten und die Akustik konvergieren und zusammenpassen, gibt es eine Chance, sich seinem Ideal anzunähern.“

Dort allerdings, wo Klangvorstellung und pianistische Darstellungsform erst gefunden werden müssen, wo es ‒ wie insbesondere bei der Musik der jüngsten Zeit ‒ keine oder noch keine Tradition der klanglichen Realisierung gibt, drängt sich für ihn die Zusammenarbeit mit den Komponisten auf, eine Gewohnheit, die ihm aus der Zeit im Ensemble intercontemporain bis heute geblieben ist. Auf diese Weise lasse sich besser erfassen, wo die Schwerpunkte der Interpretation liegen sollten. In diesem Zusammenhang sind insbesondere zwei Komponisten zu nennen, die für Aimard besondere Bedeutung erlangt haben: zum einen Olivier Messiaen, mit dem er seit seiner Studienzeit bei Yvonne Loriod in engem Kontakt stand und für dessen Musik er derzeit als einer der besten Interpreten gilt; und zum anderen György Ligeti, der von seinen pianistischen Fähigkeiten höchst angetan war. In einem Gespräch mit dem Chefkritiker der New York Times, Anthony Tommasini, sagte Ligeti über den Pianisten: „Ich war beeindruckt von seiner guten Technik, dem extrem hohen Niveau seiner Künstlerschaft und unserem gegenseitigen Einverständnis. Ich beschloss, er wäre für mich der beste Pianist, und ich hörte ihn Vorträge halten und Kurse geben über meine Musik, die belegen, dass er sie besser kennt als ich.“

Versucht man Aimards pianistischen Zugriff zu charakterisieren, so drängt sich insbesondere ein Begriff auf: jener der Geste. Aufbauend auf einer stupenden Virtuosität rückt sein Spiel das Gestische ganz in den Vordergrund. Es ist diese musikalische Geste, die aus einer bloßen Abfolge von Klängen eine unmittelbar auffassbare Einheit macht. Und hier dürfte ein Aspekt dessen liegen, was Ligeti in dem zitierten Gespräch mit Tommasini an der Künstlerschaft Aimards hervorgehoben hat. Er besitzt eine außerordentliche Fähigkeit, Musik hinsichtlich dessen, was gleichzeitig sich vollzieht, als eine Art geschichteten Raum darzustellen. Somit erweitert, entfaltet, erschließt und gestaltet sich die musikalische Geste innerhalb ihrer werkcharakteristischen Ganzheit. Aimard führt uns ein Stück als ein Ganzes vor Ohren wie ein Objekt, das er uns zeigt, bei dem zu Beginn schon der Verlauf präsent zu sein scheint und selbst ganz am Schluss noch der Anfang wirkt. In beiden Fällen ist das Einzelne konzeptuell in einem Ganzen aufgehoben und wird in seiner Rolle, die es in diesem spielt, unmittelbar verständlich.

Ein Beispiel dafür findet sich in Aimards Interpretation des elften Blicks aus den Vingt regards sur l’enfant Jésus (1942‒43) von Olivier Messiaen, betitelt Première communion de la Vierge. Hier stellt sich beim Hören der Eindruck nicht eines Prozesses ein, sondern der einer tönenden Architektur, an der wir uns mit unseren Ohren entlangbewegen. So treten gleich zu Beginn die extrem kontrastierenden Sphären des akkordischen Gottes-Themas der linken Hand, die flirrenden Figuren der rechten Hand in höchster Lage und die an den letzten Akkord des Themas anschließenden Achtelketten in der Lage dazwischen als klar voneinander unterschiedene Ebenen in Erscheinung. Die Form des Ganzen stellt sich, dem Titel des Zyklus durchaus entsprechend, als Abfolge von ,Ansichten‘ dar.

Oder auch: György Ligetis Entrelacs betiteltes zwölftes Stück aus dem zweiten Buch der Études (1988‒94). Aimard ‒ dem Widmungsträger des Stücks ‒ gelingt es hier, die nach und nach sich entfaltende rhythmische Vielschichtigkeit in frappierender Klarheit uns vor Ohren zu führen wie die Schichtungen einer geologischen Formation.

Der weite ästhetische Horizont, die stupende Virtuosität und vielleicht noch mehr seine gestalterische Kraft haben Pierre-Laurent Aimard auch zu einem gefragten Lehrer werden lassen, der sein Können und Wissen am Conservatoire national supérieur de musique in Paris und an der Musikhochschule Köln sowie auf zahlreichen Meisterkursen gerne vermittelt. In diesen Zusammenhang reiht sich auch seine Begeisterung und sein Engagement für das interaktive Internetprojekt des Klavier-Festival Ruhr Explore the Score ein, das es gestattet, ihn als Interpret und Kommentator der Klavieretüden Ligetis zu erleben.

Aimards umfassende Perspektive auf die Musik, der das jüngst Entstandene ebenso selbstverständlich ist wie die Musik der vergangenen Jahrhunderte, zeigt sich auch in seiner feinsinnigen, stilistisch differenzierenden und somit ästhetisch anregenden Programmgestaltung, sei es als künstlerischer Direktor des Aldeburgh Festival (2009‒16) oder in den eigenen Konzertprogrammen. Sie konfrontieren nicht selten Werke aus weit auseinanderliegenden Epochen miteinander und bringen sie damit wechselseitig zum Sprechen.

Interaktive Partituren einiger Klavierwerke Ligetis - darunter auch Entrelacs - mit dazugehörigen Videos, in denen Pierre-Laurent Aimard die Stücke interpretiert und kommentiert, finden Sie unter www.explorethescore.org.