Einmal Erreichtes wird sofort wieder verlassen

Der Komponist Beat Furrer und seine Kunst mit jedem Werk in unbekannte Gefilde vorzustoßen

Von Claus Spahn

Er wolle am Abend wieder zurück sein an seinem Komponierschreibtisch im Gesäuse, sagt Beat Furrer, als wir uns in einem Caféhaus in Wien treffen. Gesäuse? Da scheint die Stille des Arbeits-Refugiums schon im Namen mitzuklingen. Das Gesäuse ist ein Nationalpark in der Steiermark, ein von der Zivilisation abgeschiedener Talwinkel, umstellt von hohen Gebirgswänden aus Kalkstein, dreieinhalb Stunden mit der Bahn von Wien entfernt. Dort zieht sich Beat Furrer in ein altes Forsthaus zum Komponieren zurück. Umgeben von Wäldern, schroffen Felsen und viel Schnee im Winter ist er beim Schreiben am liebsten mit sich allein. Sein einziger Nachbar sei der Jagdaufseher des Naturschutzgebiets, der im Dorf manchmal für ihn einkaufe. In diesem Forsthaus sitzt Furrer gerade über der Reinschrift seiner neuen Oper Violetter Schnee, die in der Spielzeit 2018/19 an der Berliner Staatsoper zur Uraufführung kommt. 360 Partiturseiten muss er in die endgültige Form bringen. Der Abgabetermin dränge, aber er komme voran, sagt Furrer, manchmal schneller, manchmal langsamer. Das Komponiertempo forcieren zu wollen, bringe gar nichts. Die Fertigstellung eines Werks brauche eben die Konzentration, die Ruhe, die Zeit, die es brauche. Und im Gesäuse findet er sie.

Das fast klischeehaft romantische Bild also vom Künstler, der sich von der Welt zurückzieht und die Einsamkeit sucht, um ein neuen Werk hervorzubringen – aber es passt zu dem in der Schweiz geborenen und seit mehr als vier Jahrzehnten in Österreich lebenden Komponisten. Es passt zu der Introspektion und dem großen Maß an Reflexion, das aus all seinen künstlerischen Arbeiten spricht, zu der Bedächtigkeit und der radikalen Einlässlichkeit, mit der er sich seinen kompositorischen Gegenständen widmet. „Keine Angst, ich bin kein Eremit“, sagt Furrer. Es seien nur bestimmte Schaffensphasen, in denen er sich zurückziehe, „sonst wird man sonderlich“.

Dem Rückzug steht eine aufmerksame Weltwahrnehmung des Komponisten gegenüber. Furrer registriert – auch als Dirigent und Kompositionslehrer – sehr genau, was um ihn herum passiert, in der Gegenwartsmusik, in Film, Theater und Bildender Kunst. Er ist ein Mann der Bücher, die Liste der Dichter und Schriftsteller, die in seinen Werken vorkommen, liest sich wie ein umfassender Bildungskanon von Ovid und Vergil bis Marguerite Duras, Cesare Pavese und Vladimir Sorokin. Furrer ist ein feingestimmter Intellektueller mit weit ausgefahrenen Antennen. Im Moment liege gerade Tacitus in einer zweisprachigen Ausgabe auf seinem Nachttisch, „eine extrem spannende Lektüre“.

Das Essenzielle, das Furrer am steiermärkischen Gesäuse-Tal so schätzt, findet seine Entsprechung in den Orten, an die er die Hörer in seinen Werken immer wieder führt. Es sind Nicht-Orte von mythischer Weite, Außenposten, an denen der Mensch auf sich selbst zurückgeworfen ist, Zustände von existenzieller Selbstentfremdung. Da ist zum Beispiel das Weltdunkel, in das gleich seine erste, 1989 uraufgeführte Oper Die Blinden nach dem Einakter Les Aveugles von Maurice Maeterlink und Texten von Platon, Hölderlin und Rimbaud vordringt: Acht Blinde vermissen und suchen ihren Führer, den einzig Sehenden, und gelangen schließlich zu der Erkenntnis, dass er nur noch als Toter unter ihnen ist. Das Stück tastet sich in der Nachtschwärze des menschlichen Daseins zwischen der brennenden Suche nach Erkenntnis und einem an Samuel Beckett erinnernden Vergeblichkeitswarten voran. Orientierungslosigkeit, Angst, Bedrohung, Hoffnungsschimmern – das alles erkundet Furrer mit einer suggestiven, kammermusikalisch ausgesparten, multiperspektivisch verschränkten, echolotartig ausgreifenden Musik. Die Oper erzählt von Blindheit in der Moderne und dem unermüdlichen menschlichen Antrieb, die Ängste der Dunkelheit zu bannen. Bereits mit diesem Musiktheater-Erstling hat Furrer sein kompositorisches Schaffen markant auf der Landkarte der zeitgenössischen Musik verankert.

Da ist zum Beispiel die faszinierende Ödnis in seinem vor acht Jahren (unter der Regie von Christoph Marthaler) uraufgeführten Musiktheater Wüstenbuch. Ein lebensfernerer Ort lässt sich kaum denken. Es sind Extrem- und Endpunkte des Daseins, an die Furrer den Hörer in diesem Werk führt, Gefilde von ungeheurer Leere und Ausgesetztheit, Zeitlosigkeit und Todesnähe. Furrers Wüste ist freilich keine reale Opern-Szenerie, sie erscheint nur als musikalische Imagination vor dem inneren Auge des Hörers – in einem Musiktheater ohne Handlung und ohne Figuren, erschaffen aus gesiebtem Klanggeröll und Stille, fragmentierten Sprachpartikeln und Vokalisen, die sich wie weit geschwungene Landschaftslinien wölben.

Das Stück ist mehr eine Installation aus Musik, Sprache und Fata-Morgana-gleicher Bildfantasie als eine Oper. Das extrem reduzierte, gleichsam vom unwirtlichen Wüsten-Klima ausgebleichte Libretto basiert auf poetischen Kurztexten des österreichischen Dramatikers Händl Klaus, erratischen, altägyptischen Papyros-Schriftpassagen, die der Ägyptologe Jan Assmann dem Komponisten nahegebracht hat und Notaten aus dem Wüstenbuch der Dichterin Ingeborg Bachmann, die nach ihrer traumatischen Trennung von Max Frisch eine Reise ins Niemandsland zwischen Kairo und dem Sudan unternahm, um sich selbst neu zu finden.

Beat Furrer liebt solche kompositorischen Expeditionen ins Unwirtliche und Existenzielle, wie er sie in Wüstenbuch unternommen hat. Deshalb darf man ihn sich auch grundsätzlich als einen immerwährend Suchenden vorstellen, als einen Extremreisenden, der mit jedem seiner Werke aufs Neue in terra incognita aufbricht. Tun das nicht alle Komponisten? Es gibt nicht wenige Vertreter der Zunft, die sich in dem Gebiet, das sie ästhetisch einmal für sich fruchtbar gemacht haben, häuslich niederlassen und fortan liefern, was das gut erschlossene Umfeld hergibt. Zu ihnen gehört Beat Furrer nicht. In jeder Komposition scheint er die Voraussetzungen seines Schaffens zu überprüfen und zu hinterfragen. Nichts nimmt er von vorneherein als gegeben hin. Allem scheint er von Neuem auf den Grund gehen zu müssen, um zu eigenständigen und anders gewendeten Antworten zu kommen.

Das Singen etwa ist für Furrer im Musiktheater alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Ob und wie Text über die Sprache zum Gesang werden kann, und umgekehrt, wie Gesang sich in Sprache, Phoneme, Atmen auflöst; wie der Sprachklang sich zur Sprachlichkeit des Klangs verhält; in welcher Weise die Stimme Klang und umgekehrt auslösen kann; wo musiktheatralische Bedeutung im Gesprochenen und Gesungenen jenseits des Sinns von Worten entsteht – das alles sind bei Furrer hochreflektierte Vorgänge, für die er in seinen Werken variantenreiche und stets neu ertüftelte Lösungen findet.

Dass Furrer nie zu den Komponisten der Gegenwart gehören würde, die einfach frohgemut gesungene Töne aneinanderreihen, wenn sie eine Oper schreiben, war eindrucksvoll bereits in seinem zweiten, 1994 in Graz uraufgeführten Musiktheaterwerk zu spüren – Narcissus für zwei Sprecher und eine weibliche Stimme nach Textfragmenten aus den Metamorphosen des Ovid. Das Thema ist der antike Mythos von Narziss und Echo, die Tragödie des schönen, eitlen Jünglings, der, unfähig zur Kommunikation, die ihn liebende Nymphe Echo in die Versteinerung treibt und – gefangen im Spiegelkabinett der ewigen Selbstbetrachtung – an seiner Eigenliebe zugrunde geht. Furrer hat diesen Narziss als «prozessuale Figur» (wie er es selbst nennt) angelegt und ihn in zwei Sprecherstimmen aufgespalten, denen der Gesang als Kommunikationsmedium versagt bleibt und die semantische Ebene des gesprochenen Wortes abhanden gekommen scheint. Korrespondierend mit der Mitteilungsunfähigkeit des selbstverliebten Jünglings bringen sie nur zerhackte und gestotterte Silben, Vokale und Konsonanten hervor. Im Stadium der Vorsprachlichkeit setzt diese Oper ein: Worte, Sätze, Bedeutung, Aussprache, Klang müssen erst gefunden, entwickelt, komponiert werden. Mit Einzeltönen, getuschelten Motivkürzeln, Sprachpartikeln, perkussiven Geräuschen und verwischten Streicherakkorden beginnt das Stück. Zusammenhänge, thematische Fortschreibungen und Rückbezüge entwickeln sich erst nach und nach, ausgearbeitet und verdichtet in für den Hörer schier undurchschaubaren Spiegelungen, Brechungen und metamorphischen Verwandlungen. Der Prozess des Komponierens und der Sprachfindung selbst wird zum Thema der Komposition. Tastend, suchend, forschend, hörend findet hier Musiktheater zu einer unverwechselbaren Eigensprachlichkeit – eine für Furrers Komponieren charakteristische Schaffensdynamik.

Furrers Oeuvre drängt zum Theatralischen, zu Auseinandersetzung mit Sprache, der Stimme und dem Klang im Raum. Sieben Werke für das Musiktheater hat er in den vergangenen dreißig Jahren geschrieben. Sie bilden das Zentrum seiner Arbeit, obwohl sein Werkkatalog auch reich ist an Orchesterwerken, Ensemblestücken und Kammermusik. Keines seiner Werke möchte man allerdings vorbehaltlos eine Oper nennen, weil darin abwesend ist, was man gemeinhin mit der traditionellen Kunstform verbindet – linear erzählte Geschichten, konsistente, ‚handelnde‘ Figuren, in Arien gefasste Gefühlsbefindlichkeit.

Furrer trachtet danach, Dramatik nicht aus einer Handlung, sondern aus den Klängen, der Sprachäußerung, des Gesangs selbst zu entwickeln und zielt auf eine Theatralik der Gleichzeitigkeit, der strukturellen Durchdringung und Verdichtung durch Schichtung, Brechung und Überlagerung. „Einmal Erreichtes wird sofort wieder verlassen, sich etablierende Ordnungen werden sofort wieder aufgesplittert, gespiegelt, verzerrt, vervielfacht“, hat Furrer seine Strategie im Kontext von Narcissus beschrieben. Solche Multiperspektive verleiht seinen Werken einen rätselhaften, kaleidoskopartigen Charakter, dessen Anziehungskraft freilich aus der enormen Sinnlichkeit erwächst, die dem Klanggeschehen immer innewohnt. Mögen Furrers kompositorische Arbeiten noch so reflektiert und elaboriert sein, kalt konstruiert klingen sie nie.

Das Hörtheater Fama, das 2005 bei den Donaueschinger Musiktagen uraufgeführt wurde und schließlich zu einem der erfolgreichsten Stück Furrers avancierte, ist dafür ein herausragendes Beispiel. Wieder nimmt der Komponist den Hörer mit an einen mythischen Ort: „In der Mitte des Erdkreises, zwischen Erde, Meer und Himmelszonen“, in einem Haus „aus tönendem Erz“, das Tag und Nacht nach allen Seiten hin offen ist, wohnt Fama, die Göttin des Gerüchts und des Hörensagens, so heißt es in den „Metamorphosen“ des Ovid. Fama vernimmt alles, was unter den Menschen gesprochen wird. Jeder Laut dringt an ihr lauschendes Ohr und alles, was sie hört, spiegelt sie als Echo wieder zurück in die Welt. Famas Haus ist als theatralischer Ort nicht der Schauplatz einer einzigen Geschichte, sondern gleichsam Schnittpunkt und Umschlagplatz aller Erzählungen der Menschheit. Furrer hat für dieses Haus einen ganz realen Klangraum vorgesehen, eine hölzerne Box, um die herum die Musiker und Sänger gruppiert sind und in dessen Inneren die Hörer sitzen. Die Box ist mit mannigfach verstellbaren Lamellen, Luken und Öffnungen versehen, durch die gefiltert, gesteuert und reflektiert Klänge und Stimmen von außen nach innen dringen, den Eindruck von Nähe und Ferne, Unmittelbarkeit und Echo, Fokussierung und Diffusion erzeugend. Das Stück „für Klanggebäude, großes Ensemble, acht Stimmen und eine Schauspielerin“ ist von packend suggestiver Wirkung – ein alle Sinne herausforderndes und verfeinerndes Weltwahrnehmungstheater. Der Musikjournalist Volker Hagedorn nannte die – gemeinsam mit einem Architekten und einem Akustiker von Christoph Marthaler in Szene gesetzte – Donaueschinger Uraufführung von Fama in der Wochenzeitung DIE ZEIT schlicht „ein Wunder“.

Furrers Schaffen handelt in Fama wie in vielen anderen Stücken von der uralten Sehnsucht der Komponisten, der Zeit in die Speichen zu greifen, sie zu verlangsamen und zu beschleunigen, die Beschleunigung in Stillstand umschlagen zu lassen, sie durch polymetrische Tricks ins Stolpern und Stottern zu bringen oder sie durch klangräumliche Entgrenzung ins Leere laufen zu lassen. Gegen linear vergehende Zeit komponiert Furrer in seinen Werken immer an, sei es im Wüstenbuch, in der alles Zeitliche wie ausgetrocknet und verdorrt erscheint, sei es in der vor drei Jahren in Hamburg uraufgeführten Oper La bianca notte/die helle nacht, die den italienischen Dichter und Lebenskünstler, vom Futurismus affizierten und im Wahnsinn endenden Dino Campana zum Thema hat und mit schleifenartig, kreiselnden Verlaufsformen regelrechte Zeitstrudel erzeugt.

In nuun für zwei Klavier und Orchester von 1996 lässt Furrer sogar die mythische Figur Nu, die der Legende nach die Zeit anzuhalten vermag, im Stück-Titel auftauchen und spannt in dem Werk einen großen Bogen vom Ensembletutti zum vereinzelten Klavierton, vom Fortissimo zum Pianissimo, von einer wahren Sturzflut gleichzeitiger musikalischer Ereignisse zur Stille. „Kein Anfang: Alles von Anfang an anwesend“, hat Furrer einmal zu seinen Umgang mit der Zeit gesagt, „Anfang ist der Beginn unserer kompositorischen Handlung, das Ende der Doppelstrich, nichts aufgelöst, nichts zurückgekehrt: Vorstellung des Eindringens in verschiedene Formen der Zeit“.

Es wird nicht mehr lange dauern, bis Beat Furrer auch hinter sein jüngstes Werk den letzten Doppelstrich gesetzt hat, draußen in der Einöde seines Gesäuse-Forsthauses. Und wieder lässt er sich neu herausfordern – von der Form, von neuen künstlerischen Partnern, vom Stoff. Ein konsistenteres, weniger fragmentarisch poetisches Libretto habe ihm für dieses Projekt vorgeschwebt, näher an Figuren, Handlung und einer konkreten Welt. Beim russischen Schriftsteller Vladimir Sorokin, dessen Werke er außerordentlich schätzt, gab er das Textbuch in Auftrag. Nur einmal, erzählt Furrer, hätten sie sich in Berlin getroffen. Er, Furrer, habe ihm geschildert, wie wichtig Andreij Tarkowskis Verfilmung von Stanislaw Lems Solaris für ihn sei, insbesondere eine sehr lange Einstellung, in der das Kameraauge aus der Raumstation auf einen fremden Planeten blicke und das Schwarz den Betrachter förmlich in sich aufsauge. „Da habe ich die Möglichkeit von Musik gespürt.“ Violetter Schnee wird in der Folge einer globalen Katastrophe spielen, deren Art und Ausmaß unbenannt bleiben. Die Sonne geht über dieser Welt nicht mehr auf, es schneit ununterbrochen und die Menschen haben die Fähigkeit verloren, miteinander zu kommunizieren. Dass der russische Text, den Sorokin lieferte, erst der Anfang war, versteht sich bei Furrer von selbst: Händl Klaus erstellte das Libretto. Es wird wieder etwas Neues sein – und am Ende trotzdem eine Furrer-Komposition. Unverwechselbar.

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