Essay

Per Nørgård

Ein Essay von Karl Aage Rasmussen
Übersetzung: Wieland Hoban

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Per Nørgårds Musik weckt Bewunderung – sowohl durch ihre Konsequenz als auch durch ihre kreative Vielseitigkeit. Die Fantasie, der Umfang und die Tiefgründigkeit seines Gesamtwerks sind einmalig und er genießt internationale Anerkennung als eine Hauptfigur in der zeitgenössischen Musik. Im dänischen Musikleben findet man seine Spuren nahezu überall, sei es als Inspirator, Vermittler oder Kulturkommentator. Durch seine Lehrtätigkeit hat er zudem viele skandinavische Komponisten der letzten 50 Jahre geprägt und beeinflusst.

 

Dass es ihm gelungen ist, eine solche Statur zu behalten, ohne dadurch alle um ihn herum in seinen Schatten zu stellen, liegt an seinen Charaktereigenschaften: Offenheit, unermüdliche Neugier und ein einzigartiges sinnliches Bewusstsein. Die Welt nach Nørgård ist nicht bloß eine verwirrende Häufung beliebiger Ereignisse; sie ist ein verzauberter Ort, voll potentieller Entdeckungen, wenn der Verstand und die Sinne weit geöffnet sind – die kontinuierlichen Verbindungen und Relationen in der Natur, die unendlichen Geheimnisse, die jeder Klang darstellt, sei er noch so bescheiden. Ein Komponist muss ein Ohr für die Wunder der hörbaren Welt haben, muss sie spüren können, wo andere nur das Brummen des Alltags vernehmen. Als er an einem südindischen Strand dem Brechen riesiger Wellen lauschte, fiel Nørgård plötzlich ein leises, extrem tiefes Geräusch aus dem Meer auf, das sich weder tagsüber noch nachts veränderte. Und er fragte sich: Ist dies vielleicht der Grundton des Ozeans?

 

Ihm ist bewusst, dass wir nicht nur mit den Ohren hören, sondern mit unserem ganzen Verstand. Hören beinhaltet Selektion und Erinnerung, und wir können unser Hören auf bestimmte Details ‚fokussieren‘, auch wenn wir kein wirkliches Wort dafür haben. Ihm ist ebenfalls bewusst, dass so, wie es blinde Flecken bei der optischen Wahrnehmung gibt, es auch taube Flecken gibt, wenn wir hören – vielleicht aufgrund von Gewohnheiten, oder weil eine Schicht kulturellen Abfalls etwas verdeckt. Der hörende Verstand kann wie ein Brennglas benutzt werden und ein Komponist muss in der Lage sein, mit den Ohren zu experimentieren – gar mit dem Hören überhaupt.

 

Die Klang-Ohr-Verstand-Trias durchklingt das Denken von Nørgård. Die ständige Interaktion zwischen Klängen, ihre Wellenlängen, Zeiten und Schichtungen umgeben uns wie ewige Mysterien, bleiben aber nie auf geheimnisvoller Distanz; sie sind immer nah und erlauben uns, in sie, hinter und zwischen ihnen einzudringen. Ein Beispiel: Der sogenannte Tartini-Ton, eine zusätzliche Tonhöhe, die oft zu hören ist, wenn zwei Klangwellen aufeinander treffen. Der Klang erscheint lediglich in unserem Gehör: Er kann nicht physikalisch nachgewiesen werden, geschweige denn von Mikrophonen eingefangen. Man kann ihn als bedeutungsloses Nebenprodukt abtun, oder vielmehr als Repräsentation einer fabelhaften inneren Klangwelt betrachten, eine Fata Morgana am helllichten Tag; eine andere Welt, die im Alltag spürbar präsent ist. Somit ist die große Welt voll anderer Welten, großen wie kleinen. Es ist die stets mögliche Erweiterung des Bewusstseins bei vollem Bewusstsein, die Nørgårds Fantasie schon immer beflügelte und die er unermüdlich mit seiner Hörerschaft zu teilen versucht. Mehr als alles andere ist Nørgårds Musik ein Reisebericht, in dem er fortlaufende Wanderungen durch die Labyrinthe unserer Wahrnehmung beschreibt.

Er stammt nicht aus einer Künstlerfamilie, zeigte jedoch von klein auf eine ungewöhnliche Kreativität und schuf im Alter von elf Jahren zusammen mit seinem älteren Bruder eine spezielle Art Animationsfilm mit ausgemalten Zeichnungen, begleitet von Klängen und Gesang; diese ‚Filme‘ wurden bei kleinen Familientreffen vorgeführt. Nørgård erinnert sich daran, dass er und sein Bruder sich auf das künstlerische Motto „verwirre so viel wie möglich so viele Menschen wie möglich“ einigten. Und wenn man dieses Verwirren nun auf Hegelsche Weise versteht – in dem Sinne, dass um eine Auswirkung, um etwas Bewegendes zu erreichen, ein Element des Widerspruchs nötig ist –, könnte man durchaus sagen, Nørgård sei diesem Motto seiner Kindheit treu geblieben. Auch wenn der junge Nørgård, vertieft in dem, was er „das Universum der nordischen Seele“ nennt, schwer wiederzuerkennen ist im rastlos suchenden und experimentierenden Nørgård der 60er Jahre oder dem nach Schönheit suchenden Metaphysiker der 70er Jahre oder später dem kühnen Erforscher aller Rätsel von musikalischer Bewegung, Gestalt und Rhythmus, war dieses Motto in seiner tiefsten Bedeutung vielleicht sein geheimer Leitstern: ein hartnäckiger Drang, seine Hörerschaft in jeglichem Sinne des Wortes zu bewegen und stets neue Fragen zu stellen, wenn die alten erschöpft schienen. „Treffe ich einen Künstler, der behauptet, sich in einer Krise zu befinden, gratuliere ich ihm immer“, sagte Nørgård einmal. Seine vielen Reisen, körperliche wie mentale, waren tatsächlich eine einzige Reise.

 

Durch eine Gunst des Schicksals wurde Per Nørgård mit 17 Jahren zum Schüler des großen dänischen Symphonikers Vagn Holmboe. Und Holmboes Kompositionsmethode, die „Metamorphose“ (bei der eine einfache musikalische Keimzelle ständige organische Verwandlung erfährt) war wie maßgeschneidert für einen jungen Studenten, der nach größtmöglicher Stimmigkeit und Einheit strebte. Dies wird offenkundig in Nørgårds ambitionierter erster Symphonie, der Sinfonia austera. Und in Constellations für 12 Solostreicher, seinem Durchbruchswerk aus dem Jahre 1958, entfaltet sich das Metamorphose-Prinzip auf mehreren Ebenen, obgleich die Musik noch tonale Zentren aufweist. Die musikalische Denkweise, die ihn immer wieder in neuen Konzeptionen beschäftigte, ist hier bereits in embryonaler Form vorhanden: Nicht nur organische Verwandlung auf allen Ebenen, sondern auch die Entdeckung, dass die Zeit selbst ausgedehnt, zusammengezogen oder buchstäblich angehalten werden kann – und dass sie aus der Nähe eine mikrokosmische Welt endlosen Reichtums offenbart. Das Konzept der Zeit als Fluss mit unzähligen Nebenflüssen und Deltas wurde zu einem roten Faden durch Nørgårds viele Verwandlungen.

 

In der Musik von Jean Sibelius, insbesondere den 4. und 5. Symphonien, hatte der junge Nørgård ein ähnliches kreatives Denken entdeckt, und von 1956–1957 studierte er bei Nadia Boulanger in Paris. Er war der europäischen Avantgarde also von Anfang an fremd. In den frühen 60er Jahren wurde er jedoch allmählich zur führenden Persönlichkeit in einer jungen Generation, die das Bedürfnis nach einem internationalen Bewusstsein verspürte. Eine Gruppe aus dänischen Komponisten und Akademikern fing an, sich regelmäßig zu treffen; sie vertieften sich in Serialismus, neue Kompositionstechniken und neue Vorstellungen von Form, Stil und Einheit. In den frühen 60er Jahren experimentierte Nørgård mit eigenen seriellen Konzepten, nicht zuletzt in einer Werkreihe, die er charakteristischerweise Fragments nannte. Fragment VI für Orchester war eine aggressive Reaktion auf die Isolierung, Bequemlichkeit und Selbstgenügsamkeit, die er nun als Kennzeichen der dänischen Situation auffasste – das Stück stieß international auf großes Interesse. Nørgård war aber nicht zufrieden und zog das Werk zurück. Der von ihm beabsichtigte musikalische Inhalt war nicht ausreichend hörbar; er hatte die Prüfung durch das hörende Ohr missachtet und ein bahnbrechendes Ereignis in der dänischen Musikgeschichte wurde zu einer Parenthese in seiner eigenen Laufbahn.

 

Die Erkenntnis einer fragmentarischen Welt, offen und mehrdeutig, konnte aber nicht verdrängt werden; die alten Ideen hatten ihre Unschuld verloren und Nørgårds Werke aus dem anschließenden Zeitraum wirken wie Fragezeichen, vorübergehende Befunde und Ersatzteile für ein größeres, teils verstecktes Ganzes. Nie wieder gab es in seiner Musik eine ähnlich diskursive Beziehung zwischen dem Extrovertierten und dem Intimen. Musik, Tanz und Theater prallen geradezu aufeinander in einem Werk wie der „Happening-Komposition“ Babel für Stimmen, Instrumente, Tänzer, Pantomimen und junge Interpreten: ein riesiges Fresko, das die babylonische Verwirrung der westlichen Kultur darstellt. Nørgård war einer der ersten Komponisten „ernster“ Musik, der eine einzigartige musikalische Vitalität in der neuen Jugendkultur entdeckte. Werke wie die Oper The Labyrinth (1963) und das Ballett le jeune homme à marier (nach Ionesco, 1964) scheinen sich zwar aus dem Grotesken zu speisen, doch die Musik changiert alptraumhaft zwischen Kunst und Kitsch.

 

In nachfolgenden Werken wie Iris und Luna fängt Nørgårds immanente Polyphonie jedoch wieder an, in immensen, vibrierenden Klangfeldern zu singen. Der Traum einer reinen, intimen und tiefen Schönheit wird immer stärker, einer Musik, die einerseits den Geist öffnet und fließen lässt, andererseits aber an sich so offen und transparent ist, dass das Ohr ihre Tiefen frei erkunden kann.

 

Nørgårds großartige Entdeckung, die sogenannte infinity series (Unendlichkeitsreihe) hatte schon lange gegärt, wurde dann schließlich in Voyage into the Golden Screen (1968) zum vorherr-schenden Element. Das Prinzip ähnelt einer chinesischen Schachtel: Man findet immer wieder die gleichen Formen, groß und klein, in einander und in sich selbst eingebaut (das Konzept nimmt eindeutig die fraktale Geometrie vorweg, die zehn Jahre später Mathematiker sehr faszinierte). Die Strukturen entfalten sich auf verschiedenen Ebenen, beziehen sich aber stets aufeinander in einem endlosen Netzwerk – unendlich einfach, doch mit unendlich komplizierten Ergebnissen, genau wie in der Natur.

 

Durch die Erforschung dieser universellen Welt aus Schichten, Übereinstimmungen, Verweisen und Verbindungen entwickelte Nørgård ein derart schwindelerregendes Gefühl von Kontinuität und Fülle, dass es für ihn vermutlich dem ähnelte, was wir Glaube nennen. In unzähligen Bereichen des Lebens – von der Physik zur Mystik, von der Astrologie zur Biologie – entdeckte er Verbindungen und er gelangte zu der Überzeugung, das hierarchische Prinzip der Unendlich-keitsreihe gleiche einem Naturgesetz. Es war eine Reise in eine einfache Formel hinein, die sich jedoch als endlose Variation entfaltete und mit seiner seltenen Mischung aus kaltem und warmem Verstand wandte Nørgård diese Idee auf alle musikalischen Elemente an: Er verwendet einen hierarchischen, nicht-pulsierenden Rhythmus auf Grundlage des Goldenen Schnitts und eine geschichtete Harmonie, die auf der Obertonreihe beruht, d. h. auf der Struktur vom Klang selbst, wobei jeder Ton in der Unendlichkeitsreihe ein harmonisches Spektrum bekommt. Das Ergebnis war nicht nur die strenge Verwendung dieser Werkzeuge in der 2. Symphonie sowie deren beinahe ekstatische Verherrlichung in der riesigen 3. Symphonie mit großem Orchester und zwei Chören, sondern auch die Opern Gilgamesh und später Siddhartha, die beide auf der antiken östlichen Mythologie beruhen. Hier wird das hierarchische Prinzip vorherrschend; es schafft Rhythmus und Harmonie und bildet somit auch die Form – fast so, wie Tonalität und Funktionsharmonik in der Klassik Formen bilden.

 

Es wäre nicht verwunderlich, hätte Nørgård zu irgendeinem Zeitpunkt das Gefühl gehabt, dass seine Kompositionstechnik eine fast ewige, übernatürliche Gültigkeit erlangt hatte. Er bestand aber erneut darauf, dass authentischer Ausdruck nur durch Störung, Einmischung und Verwirrung zu Stande kommen kann. Die Wahl des Siddhartha-Mythos als Opernstoff scheint folgerichtig. Der Prinz, Siddhartha, darf nichts über die Trauer, den Schmerz, das Altern oder den Tod lernen und wächst in einem künstlichen Paradies auf. Als er aber jemanden sterben sieht, überwältigen ihn genau die dunklen Aspekte des Lebens, die man vor ihm verborgen hatte. Nun fragt er sich, was Realität ist und was bloßer Schein; daraufhin verlässt er den Palast seines Vaters und wird zum Buddha, dem Gründer einer Religion.

 

Damals aber, im Jahre 1979, haben sich die immanente Schönheit und Harmonie der von Nørgård angewandten großen hierarchischen Strategien vielleicht als ungenügend erwiesen, um die Verwandlung eines unschuldigen, behüteten Jünglings in einen vollends seiner selbst bewussten Erwachsenen darzustellen (später erweiterte Nørgård erheblich die Schlüsselszene der Oper, in der Siddhartha seine Sterblichkeit erkennt). Die Prinzipien des organischen Wachstums, der Obertöne und des Goldenen Schnitts konnten zwar immerwährende Harmonie und Schönheit schaffen, jedoch nicht den Konflikt ausdrücken, den nötigen Widerspruch, um neue Erkenntnisse zu erlangen und sich zu einem vollständigen Menschen zu entwickeln.

 

Nørgård erkannte, dass er diese Herausforderung vollends annehmen und bewältigen musste. Und er fand, was er für einen gültigen künstlerischen Ausdruck von Irrationalität, Konflikt und Ungleichgewicht hielt, im Werk eines wahnsinnigen Künstlers: des schweizerischen Schizo-phrenen Adolf Wölfli, der den Großteil seines Lebens malend, komponierend und Gedichte schreibend in einer psychiatrischen Anstalt verbrachte. Wölflis Kunst ist obsessiv und expressiv zugleich; sie reicht von minutiösen Details bis hin zur Absurdität der reinen Wildheit. Ein wiederkehrendes Motiv ist der Sturz vom Glück in die Katastrophe und für Nørgård wurde dieses emotionale Klima die Antithese zur göttlichen Harmonie. In der Oper The Divine Tivoli aus dem Jahre 1982 erscheint Wölfli als Figur auf der Bühne und Nørgårds 4. Symphonie, Indian Rose Garden and Chinese Witch Sea, basiert auf „einer Idee aus Wölfli“.

 

Bis Ende der 80er Jahre mied Nørgård die Symphonie zugunsten einer Reihe von Solokonzerten, erforschte aber weiterhin die Schichtung von Zeit und Tempo und zeigte, wie Melodien durch Akzente, Metrum und Takt immer wieder neue Melodien in den Melodien offenbaren. Und er verstärkte seine Jagd nach dem unfasslichsten aller musikalischen Elemente, nämlich der Zeit an sich, durch eine Hervorhebung des Erlebens von Tempo – der greifbarsten Darstellung der Zeit in einem musikalischen Werk –, das natürlich in der Beschleunigung oder der Verlangsamung am meisten auf sich aufmerksam macht; das heißt, wenn es die Zeit sozusagen verbiegt und dreht.

 

Die 5. Symphonie, ein riesiger Einzelsatz, der anlässlich des 125. Geburtstags von Sibelius und Carl Nielsen komponiert wurde, läutete die 90er Jahre ein. Und sie kündigte ein weiteres Mal einen Neuanfang an, wie den ersten Tönen sofort anzuhören ist. Hier ist keine unschuldige Schönheit, kein organisches Wachstum mehr übriggeblieben; der Hörer ist einer verstörenden Klangwelt ausgesetzt, die blitzschnell von Stille zu pfeifenden Winden und Sirenen wechselt, dann schließlich nach brüllenden Blechbläserklängen und schwirrenden Streichern plötzlich zur Stille zurückkehrt. Gleichgewicht und Turbulenz, Ordnung und Chaos scheinen sich unvorher-sehbar abzuwechseln – ein Kritiker schrieb, das Stück habe „die ganze chaotische Unberechen-barkeit eines Wettersystems und beim Hören kommt man sich vor, als wäre man im Zentrum eines Gewitters“.

 

Mit diesem Werk wurde zunehmend deutlich, dass Per Nørgård zu einem der größten und ge-nuinsten Symphonikern unserer Zeit geworden war – in einer Zeit, in der zeitgenössische Kompo-nisten allgemein das Wort ‚Symphonie‘ nur widerwillig oder gar nicht benutzen. Nørgård dagegen, wie Sibelius, die Ikone seiner Jugend, betrachtet jede seiner Symphonien scheinbar als Prüfstein, als Zusammenfassung und Synthese. Zudem beweist er hinter bröckelnden geschichtlichen Relikten, dass das „Symphonische“ weiterhin ein bedeutendes Konzept bleibt, dass Größe hier nicht Selbstverherrlichung darstellt, sondern einfach die größtmögliche künstlerische Anstrengung bedeutet. Jede einzelne Symphonie von Nørgård ist ein eigenständiges Individuum.

 

Wenngleich widerstrebende Stimmungen in der 6. Symphonie At the End of the Day aufeinander treffen oder sich überlagern, und obwohl jede Spur einer klassischen linearen Richtung wieder verschwunden ist, scheint das Gefühl einer zugrundeliegenden Ordnung sich allmählich wieder einzustellen. Der erste Satz wird zwar von der nicht-konformen, widerspenstigen und schlicht treibenden Energie bestimmt, aber ein schattenhafter zweiter Satz und ein kurzer, burlesker dritter erscheinen fast wie Traumbilder des ersten. Nørgård deutete leise an, dass dies wahr-scheinlich seine letzte Symphonie werden würde, und gegen Ende scheint die Musik zu zerplatzen und zu verschwinden. Und doch bleibt etwas zurück: in den Worten des Komponisten, „andere Welten, Neuanfänge“.

 

Vielleicht liegt es daran, dass die 7. Symphonie von manchen als langer Abschied wahrgenommen wurde. Wie dem auch sei: Das Werk ist ein geschickt komponierter Energieverlust über drei Sätze, und der dritte Satz – der seltsamerweise die Bezeichnung Allegro trägt – ist alles andere als ein klassisches Finale. Hier jedoch, wie auch in seinen anderen späten Symphonien, kann Nørgårds Musik plötzlich ein Ausdrucksklima erreichen, das man mangels eines passenderen Begriffs als „surrealistisch“ bezeichnen könnte: traumartige Episoden in einem merkwürdig scharfen Licht und manchmal ein bizarrer, fast wilder Humor, vielleicht ein wenig an Dalí oder Max Ernst erinnernd, doch letztlich ohnegleichen – etwas Verklärtes und Leichtsinniges zugleich, dunkel und lebensbejahend, üppig und zart, einmalig und doch universell.

 

Seine letzte Symphonie, 2012 in seinem 81. Lebensjahr uraufgeführt, ist vielleicht die subtilste, farbigste und am häufigsten überraschende von allen. Beim Hören des Anfangs, mit seiner Entfaltung auf- und absteigender Linien, erkennt man sofort den Nørgård der vorherigen Symphonien wieder. Hier, wie so oft und so vielfältig zuvor, scheinen einzelne Melodielinien sich auszubreiten und widerzuhallen in einer funkelnden, vibrierenden Klanglandschaft. Nørgård erzählte einmal, dass ihm schon mit 16 Jahren eine Musik vorschwebte, die „aus einer einzigen Melodie für großes Orchester bestand […] die von allen Musikern gemeinsam erschaffen wurde.“ Es ist hier aber eine neue Leichtigkeit zu hören, eine wissende Anmut und gelegentlich ein subtiles, manchmal verstohlenes Lächeln in der Musik, selbst im eher dunkel gefärbten mittleren Adagio. Und alle drei Sätze scheinen mit einem Fragezeichen zu enden. Die für sein Werk so typische, unheimlich minutiöse Strukturierung und Gesamtgestaltung hat er hier vielleicht etwas heruntergespielt. Vom letzten Satz sagte Nørgård: „Es ist eine Musik, bei der man sich an nichts festhalten kann. Man findet es auf dem Weg.“

 

Es mag durchaus andere Welten und Neuanfänge geben, die aus Nørgårds fruchtbarem Denken noch herausschweben werden. Aber selbst heute spiegelt sein Œuvre, mit seiner gleichmäßigen Berücksichtigung fast aller musikalischen Gattungen, nicht nur eine unermüdliche Neugier wider, sondern auch ein starkes Verantwortungsgefühl gegenüber der Musik als Trägerin einer gemeinsamen Kultur. Seine Jagd nach verborgenen Schätzen in unserer Sinneswahrnehmung und seine Erforschung des kollektiven Unbewussten machen sein Lebenswerk zu einem seltenen Ausdruck des Gemeinsinns in einer Musikkultur, die sich allzu oft mit der Pflege von Individualität begnügt.