Interview

Per Nørgård – Unendlichkeit, Landschaften, Schichtungen.

Ein Gespräch mit Trine Boje Mortensen, Werbeleiterin in Nørgårds Verlag und Musikjournalistin, im Dezember 2015 in Kopenhagen.
Übersetzung: Julia Zupancic

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Der Raum, in dem wir uns während des Interviews befinden, gewährt eine Aussicht, die in gleichen Teilen aus Land, Meer und Himmel besteht. Große Wolken wälzen sich umher, grau und schwer von den Überbleibseln des Regens. Die Bewegung der Wolken ist kontinuierlich und zugleich in ständigem Wandel.
Allzu leicht lässt sich Per Nørgårds Œuvre auf den ersten Blick in verschiedene Phasen einteilen, und es mag zutreffen, dass sich zum Beispiel seine Werke aus den 70ern und den 90ern in ihrem unmittelbaren Ausdruck unterscheiden. An diesem Nachmittag jedoch, während wir langsam den großartigen Blick auf den Himmel Kopenhagens aus den Augen verlieren, sprechen wir über das, was die Werke des Komponisten trotz aller äußerlichen Veränderungen in Klang und Ausdruck verbindet.
Im Fluss des Gesprächs streifen wir verschiedene Aspekte von Musik, scheinen jedoch immer wieder an den Anfang zurück zu gelangen.

Melodien – Anfänge und Unendlichkeit

Ohne Melodie ist meine Musik nicht zu denken. Schon von klein auf war ich von dem magischen Charakter der Melodien völlig eingenommen. Das Phänomen, dass jede einzelne Melodie unendliche Möglichkeiten von verschiedenen Fortsetzungen, von neuen Öffnungen und Anfängen enthält, hat mich von Kindesbeinen an fasziniert.
Seit ich komponiere, habe ich mich mit der besonderen Art von Tiefe beschäftigt, die in den melodischen Möglichkeiten verborgen liegt – dem inneren Wesen der Melodie. Man könnte sagen, dass Melodien eine Landschaft ohne Grenzen freilegen; eine endlose Landschaft von potentiellen Fortführungen. Natürlich lässt sich argumentieren, dass auch der Klang grenzenlos sein kann, und sicherlich der Rhythmus! In meinem ganzen Leben hatte ich jedoch stets eine fast schon mystische Erfahrung von der Unendlichkeit der Melodie. Es ist, als könne die Melodie eine Tür nach der anderen öffnen. Vom allerersten Augenblick an ist dies in meiner Musik zu vernehmen. Meine sehr frühen Werke waren sogar in einem höheren Maße durch ein melodisches Universum als durch Klang oder Rhythmus charakterisiert.

Jene ersten Werke waren erfüllt von Anfängen, die sich auf etwas Neues hin bewegen. Dieses immerwährende Vermögen, eine neue Richtung einzuschlagen, zu etwas anderem weiterzugehen – das hat mich schon immer gefesselt.

Oft wird erwähnt, wie sehr Nørgård in seiner Jugend von dem finnischen Komponisten Jean Sibelius fasziniert war. Schon vor diesem lebhaften Interesse an Sibelius gab es jedoch andere Komponisten, die in seinem tonalen Kosmos nachhaltig ihre Spuren hinterlassen haben. Franz Schubert ist einer von ihnen.

Schubert war stets von dieser geheimnisvollen Aura umgeben, und ich habe mich immer gefragt warum. Wo hat er sie her, dieser Mann mit dem kurzen und in mancher Hinsicht elenden Leben? Seine Melodien sind nie gänzlich sentimental oder traurig. Durch sie schimmert immerzu eine Freude hindurch. Es ist schwierig, etwas so Geheimnisvolles wie Schuberts Musik in Worte zu fassen, aber seine Musik besitzt wahrlich eine melodische Mystik. Von früh an haben mich Schubert und Bach in ihren Bann gezogen. Sie sind seit jeher Lichtgestalten und unerreichbare Ziele für mich.
Wenn man meine frühesten Werke hört, spürt man einen gewissen Grad an … Unvollendetheit. Die Musik hört nie wirklich auf. Jedes Motiv, das scheinbar sein Ende gefunden hat, ist der Beginn von einer neuen Entwicklung. Von etwas, das weitergeht und aufhört, nur um in einer anderen Richtung fortzufahren.

Endpunkte – die Anfänge sind

Mein Verständnis von musikalischen Schlüssen ist damit verbunden, wie ich Anfänge beschrieben habe. Diese Anfänge sind ständig in Bewegung – man könnte daher sagen, dass es stets am Ende beginnt und am Anfang endet. In dieser Art des Denkens habe ich schon früh die Möglichkeit des Unendlichen für mich erschlossen. Bereits vor meinen „reifen“ Werken lässt sich beobachten, dass in der Musik etwas vor sich geht, das nicht wirklich die Absicht hat aufzuhören. Und immer, wenn man denkt „nun ja, jetzt sollte es vorbei sein“, ist die Fortsetzung längst im Gange.

Im Gespräch mit Per Nørgård gewinnt man oft den Eindruck, dass er viel mehr hört beziehungsweise anders hinhört als der Rest von uns. Dabei ist er nicht nur ganz Ohr. Seit frühester Kindheit malt und zeichnet er auch und unmittelbar nach unserer Unterhaltung zieht er einige Kunstbücher aus den Regalen, um einen Aspekt des Gesprächs zu illustrieren.

Als Jugendlicher habe ich viel gemalt und gezeichnet, es war mir jedoch immer bewusst, dass es nur in der Musik diese ständige Herausforderung, alles unaufhörlich beginnen zu lassen, geben konnte. Ich bin sehr stark GEGEN Dinge, die zu einem Abschluss kommen, und sehr stark FÜR Dinge, bei denen sich sagen lässt: „Aber, liebe Freunde, wir stehen noch immer am Anfang!“ Dieses Erlebnis zu vermitteln, sich unentwegt am Anfang zu befinden! Man könnte denken, dass es doch irgendwann einmal enden muss. Ich glaube jedoch, man kann feststellen, dass Abschlüsse in meiner Musik üblicherweise überraschend kommen – denn es hätte ebenso gut weitergehen können. Diese Doppeldeutigkeit oder Ambivalenz in meiner Musik war schon immer von größter Bedeutung für mich, das muss ich zugeben.

Landschaften – endlos und ewig neu

Per Nørgårds Werke wurden als große, mannigfaltige Klanglandschaften beschrieben, und auch der Komponist selbst tendiert dazu, seine Musik in diesem Sinne zu begreifen.

In meiner Musik gibt es viele Richtungen – man kann wählen, ob man diesen oder jenen Weg einschlägt. Es ist kein Zufall, dass das einzige theoretische Modell, mit dem ich gearbeitet habe – gewöhnlich vermeide ich theoretische Erörterungen meiner Musik –, genau das ist, was die meisten Menschen schon kennen und in einer Diskussion meiner Musik erwähnen würden: die Reihe der Unendlichkeit [infinity series]. Es ist weniger eine Reihe als eine Folge von Anfängen, bei der man verschiedene Pfade auswählen kann. Wenn man denkt, man habe begonnen, findet man heraus, dass man vielleicht am Anfang des Endes war oder dass man sich überhaupt nicht bewegt hat.                                                                                                                  

Warum mich das so fasziniert, weiß ich nicht. Aber aus diesem Grund habe ich mich für die Musik statt für die Malerei entschieden, auch wenn viele Leute dachten, ich würde Maler werden. Ich wusste jedoch von Anfang an, dass dies nicht mein Weg ist. Es musste Musik sein, da in ihr jene Unendlichkeit enthalten ist. Sie ist Klang und Bewegung in der Zeit. Nach all diesen Jahren denke ich immer noch so. Und falls jemals der Tag kommen sollte, an dem ich das Gefühl habe, die „Lösung“ für das Mysterium „Unendlichkeit und Musik“ gefunden zu haben – ich würde aufhören zu komponieren.

Bis auf den heutigen Tag ist es ein völliges Rätsel für mich, was es genau ist, das uns umgibt! Es ist unbestreitbar, dass die bloße Tatsache, dass wir am Leben sind, den Keim für die Erfahrung des Unendlichen in sich trägt. Wir wissen alle, dass wir sterben müssen, aber zur gleichen Zeit glauben wir das nicht wirklich. Zwar möchte ich mich nicht mit einer spezifischen Religion identifizieren, aber dass wir das Ewige oder Unendliche hinter unserer unmittelbaren Zeitlichkeit erfahren können, war mir schon immer klar. Woher ich dies habe, weiß ich nicht. Ich bin als Sohn eines Textilkaufmanns in Nørrebro [Anmerkung der Redaktion: ein Arbeiterviertel in Kopenhagen] aufgewachsen, wo hätte ich als Kind eine Vorstellung von Unendlichkeit aufgreifen können? Ich tat es aber. In meiner Jugend glaubte niemand, dass mir eine Laufbahn als Komponist bevorstünde. Ich habe es für mich behalten. Damals fehlte mir eine Form, die andere Menschen begreifen konnten. Es war mein Geheimnis. Ich wusste, dass dort mein Weg lag. Seit frühester Kindheit und in meiner ganzen sogenannten „Karriere“ habe ich mich der Idee der Unendlichkeit als Ausdrucksmodus gewidmet. Es ist eine beständige, permanente Suche. Sollte diese Suche jemals aufhören, kann ich sie nicht durch etwas anderes ersetzen.

Räumlichkeit – mehrdimensional, in Bewegung und unbewegt

Die Idee der Unendlichkeit ist zweifelsohne nicht nur zeitlich, sondern auch mehrdimensional zu begreifen. Die Anfänge finden nicht nur nacheinander statt, sondern übereinander, gleichzeitig und in verschiedenen Zeitschichten. Während unseres Interviews kam der Begriff der Räumlichkeit zur Sprache und mit ihm ein neuer Anfang.

Die verschiedenen Phasen, durch die meine Musik gegangen sein soll, unterscheiden sich eigentlich gar nicht so sehr voneinander. Sie alle sind inbegriffen in dem, was man Räumlichkeit nennen kann. Mehrdimensionalität hat mich schon immer stark angezogen. Sie befindet sich im Kern meiner Begeisterung für Musik. Ich komme immer wieder auf meinen Anfangspunkt zurück, meine Faszination für Unendlichkeit. Meiner Auffassung nach war es kein Zufall, dass ich die Unendlichkeitsreihe gefunden habe, denn sie enthält ja diese Mehrdimensionalität. In mancher Hinsicht ist die Unendlichkeitsreihe geschlossen, da sie in Teile zerlegt werden kann, sie ist jedoch offen, da jeder Teil auf eine Fortsetzung nach der anderen deutet. Das kann irritieren – und zur gleichen Zeit zutiefst faszinieren. Wie ist so etwas möglich?

Musikalische Anfänge und Abschlüsse werden immerzu mit dem ständig erneuerten Ausgangspunkt von Per Nørgårds kompositorischem Werdegang verwoben.

Ich bin nicht daran interessiert, mit … Carl Nielsen oder anderen großen Komponisten in Konkurrenz zu treten und etwas zu erschaffen, bei dem es heißt „Nørgård war auch dabei“. Das finde ich nicht reizvoll. Was mich von jeher angetrieben hat, ist die persönliche Faszination für einen besonderen Aspekt in der Musik und daran habe ich mich immer gehalten.
Diese bewegte Unbewegtheit, die darin wurzelt, dass ich nie etwas beenden kann, sobald es angefangen hat – das ist gewissermaßen mein Credo. Das Ende ist der Anfang und der Anfang ist das Ende.

Der Raum, in dem wir uns während des Interviews befinden, gewährt eine Aussicht, die in gleichen Teilen aus Land, Meer und Himmel besteht. Große Wolken wälzen sich umher, grau und schwer von den Überbleibseln des Regens. Die Bewegung der Wolken ist kontinuierlich und zugleich in ständigem Wandel. Mittlerweile etwas weniger grau.