Is it Music at all?

von Gascia Ouzounian

Ann Cleares Musik ist in ihrer expressiven Intention auf eine Weise kühn, unmittelbar und klar, dass es die Frage aufwirft: Ist das überhaupt Musik? Oder ist es etwas anderes, ein vollkommen anderes Kunstgenre, das sich zwar auf die musikalische Tradition bezieht, jedoch auch gegen und über diese hinausdrängt und dabei etwas artikuliert, das einerseits Klang darstellt, aber ebenso von Energie, Bewegung und Raum handelt – und der Welt an sich? Wie so viele der faszinierendsten Komponisten des letzten Jahrhunderts scheint sich auch Cleare, eine irische Komponistin aus County Offaly, gerne in diesem undefinierten Raum aufzuhalten, der jedoch auch neue und aufregende Möglichkeiten schafft. Wir hören wie diese Möglichkeiten Form annehmen bei teeth of light, tongue of waves (2017–18), einem Werk für Sopran, Fagott und Streicher, bei dem die Sopranistin in ein Bambusröhren-Glockenspiel singt. Da der Sopran immer zusammen mit dem wogenden Fagott zu hören ist, ist es leicht vorstellbar, die Stimme lebe unter Wasser, vielleicht eine Andeutung an das in dieser Komposition vorherrschende Thema der Paläoozeanographie, der Wissenschaft urzeitlicher Meere. Cleares detaillierte Notation lässt keine Zweifel, wie die Sopranistin das Bambusröhren-Glockenspiel bedienen solle, das wie aus weiter Vergangenheit erklingt. Und trotzdem, wie bei vielen ihrer Kompositionen, steht diese Präzision in der Notation im Gleichgewicht mit einem von der Partitur vermittelten Freiheitssinn und Cleares Vertrauen in die Musiker. Cleares Partituren sind einer innigen, hochgradig kunstvollen Sprache ähnlich, die nur wenige Privilegierte verstehen. Bei moil (2013) für Streichquartett ist die Partitur voller akustischer Details, gespickt mit umfangreichen Anweisungen an die Vorstellungskraft des Musikers: „Abrupt, wellen-ähnlich“; „Zwei Taschen mit niemals endender, komplexer Energie“; „Aus der Vergangenheit: Ein anderer Ort“; „Ein Licht, das näher und näher kommt“. So wie die Vorstellung des Musikers sorgsam geformt wird, wird durch Cleares Musik auch die Fantasie des Zuhörers entfacht und wiederbelebt. eöl (201415) für Schlagzeug und Kammerensemble ist inspiriert von dem Charakter Edward mit den Scherenhänden, dem künstlichen Menschen, der Klingen statt Finger hat. In dem Stück eöl werden diese Hände in Form von metallenen Schlaginstrumenten, die der Schlagzeuger an seinen Armen und Händen trägt, neu interpretiert. Der Effekt auf den Zuhörer ist zugleich klanglich und haptisch. Wir hören und fühlen gleichzeitig, was der Schlagzeuger fühlt, stellen uns vor, wie wir den Körper des Schlagzeugers einnehmen, der wiederhergestellt und erweitert wurde durch diese seltsamen und schönen metallenen Gliedmaßen.

               Die Körperlichkeit von Cleares Musik trägt dazu bei, dass diese wie ein neues Kunstgenre wirkt, etwas das sich zwischen Musik, Physik, Elektrizität und Skulptur aufhält. Ihre Komposition On Magnetic Fields (2016) ist für zwei Ensembles geschrieben, die Cleare als „zwei kinetische Wirbelwinde“ bezeichnet, welche durch zwei Violinsolisten verbunden sind. Die Art und Weise, in der Cleare diese Violinen konzeptualisiert, gibt uns wichtige Hinweise auf das Selbstverständnis ihrer Kunst. Sie sieht die Violine nicht als Musikinstrument im herkömmlichen Sinne, sondern als energetisches Medium. Sie schreibt, dass die Violine als „elektrische Spannung dient, eine blecherne Stimme, die magnetisch die Spannung des umliegenden Ensembles auflädt. Die elektrische Stimme der einzelnen Geigen entzündet ein elektromagnetisches Spektrum, und die umliegenden Ensembles hüllen die Geigen in Schichten von unterschiedlichem klanglichen Material, was eine elektrische Wolke erschafft, von der die entstandenen Spannungen sprechen können.“ Auf diese Weise wird die Violine, die sonst als klangliches Instrument gesehen und kompositorisch eingesetzt wird, zu etwas anderem: ein Funke, ein Medium, eine Spannung. Es ist bemerkenswert, dass Cleare in der Realisierung ihrer Idee von Musik als energetischer Skulptur in dieser Komposition außer auf Verstärkung nicht auf Elektroakustik zurückgreift. Stattdessen verwendet sie akustische Instrumente und Musiker, die Vorstellungen von Spannung, Bewegung und Magnetismus verkörpern. Auch hier führen ihre Partituren die Musiker durch diese energetischen Welten: „Wie eine elektrische Welle, die zum Leben erweckt wird“; „Wie ein Energiestrom innerhalb einer Ensemble-Bewegung“; „Turbulente Veränderungen, von der Violine herbeigeführt…“; „Unruhen“; „hineinflimmern“; „eintrichternd“; „schwebend“.

               Ein ähnlicher Impuls unterliegt I Am Not a Clockmaker Either (2009), einem Werk für Tasteninstrumente und Elektronik. Hier erschafft Cleare im Klang das, was die bildende Künstlerin Cornelia Parker in ihren Skulpturen erschafft: Ein Objekt explodiert in zahllose Fragmente und wird anschließend wieder so zusammengefügt, dass jedes einzelne Teil oder Bruchstück neu wahrgenommen werden kann. In Cleares Komposition werden diese klanglichen Bruchstücke verwandelt und durch unzählige energetische Felder getrieben. Sie beschwört eine Bewegung herauf, die „bricht, zerreißt, ablenkt, sich windet und in sich selbst zusammenrollt, sodass klangliche Fragmente… zusammen pulverisiert werden, um einander herumschwirren wie Wolken, sich drehen, implodieren oder sich von innen nach außen stülpen.“ Das ist Musik, welche die inneren Vorgänge des physischen Universums aufdeckt und neu den Zuhörern zugänglich macht. Obgleich die Komposition ihren Titel aus den Schriften Morton Feldmans zieht, scheinen die historischen Referenzen weit früher in die Geschichte zurückzureichen, bis hin zu Luigi Russolos ‚Kunst der Geräusche‘-Manifest von 1913. Cleare erreicht den futuristischen Traum einer wahrhaften Geräusch-Musik, eine Musik, die verwurzelt ist in Energie, Stärke, Dynamik, Bewegung und Kraft. Bei Earth Waves (2017–18) wird diese aus Energie geborene Musik zum Leben erweckt durch einen Soloposaunisten und sechs Sängern, die kleine Lautsprecher tragen und deren Bewegungen präzise von Cleare choreographiert werden. Wie bei vielen ihrer Kompositionen gibt Cleare an, wo sich die Musiker befinden sollen und wann und wie sie sich auf der Bühne und in Relation zu ihren Instrumenten bewegen sollen. Ihre Partituren können also als sorgfältig vorbereitete Experimente in klanglicher Energie gesehen werden: Sie schaffen einen Rahmen, der es ermöglicht, dass bestimmte Arten von Energie existieren oder sich auflösen.

               Um auf die Frage zurückzukommen, die Cleares Werk aufwirft, ist dies überhaupt Musik oder ist es etwas anderes: eine Kunst aus Energie; eine Kunst, die den Raum formt durch Klang und Bewegung; eine Kunst, die Fantasie und Bewusstsein verbindet; eine Kunst aus Dichtung und der Geschichte der Zeit? Natürlich ist es all das und mehr, und befähigt uns, Musik auf diese fundamental neue Weise zu verstehen.

Übersetzung ins Deutsche: Anna Leibinger