Ein Freibeuter der Musik

von Markus Böggemann

Kunst ist keine Privatangelegenheit. Sie ist es nicht, wenn sie – als Bild, als Film, als Komposition – vor ein Publikum tritt. Sie ist es aber auch bereits dann nicht, wenn sie erst noch entsteht, wenn Ideen und Konzepte getestet, Problemstellungen entworfen und mögliche Lösungen ausprobiert werden. Für den 1992 geborenen Mithatcan Öcal liegt gerade hier der besondere Wert der Kunst. Sie soll, wie es in einem kürzlich veröffentlichten Text von ihm heißt, „(…) ihre Kraft aus der Solidarität von Kollegen beziehen, die von ähnlichen Sorgen umgetrieben werden; ästhetisierte Ideen sollten nicht im Schatten individueller Egos bleiben.“ Auf diese Solidarität ist angewiesen, wer wie Öcal und seine Mitstreiter in dem von ihnen gegründeten Istanbul Composers Collective zur offiziellen Ästhetik auf Distanz geht. Ebenso wie die angestrebte Freiheit von Hierarchien und von der Beeinflussung durch die herrschenden Ausbildungs- und Fördersysteme mag das eher eine konkrete Utopie als eine Realität sein – ihrer Wirkung auf die künstlerische Arbeit tut das jedoch keinen Abbruch.

               Das Bild, das Öcal für sich und seine Gruppe wählt, ist das der Piraterie, des künstlerischen Freibeutertums. Seine Freiheit von den Zumutungen einer verordneten Ästhetik entspricht dabei einer Freiheit zu der selbstbestimmten Wahl der kompositorischen Mittel und Ausdrucksweisen. So steht neben dem mit teils plakativen Spektralflächen arbeitenden, halbstündigen Belt of Sympathies (2016) das gerade einmal drei Minuten dauernde, mit sardonischem Witz durchtränkte Yine Bir Gül Nihal (2015), das eine klassisch-„westliche“ Melodie in einem klassisch-„osmanischen“ Klanggewand präsentiert. Damit markiert das Stück die Reibungsfläche, an der sich auch andere Werke Öcals entzünden, insbesondere das jüngst fertiggestellte Orchesterstück Alessandro Perevelli (Pereveli Hacı İskender Efendi). Benannt ist es nach einer Figur aus dem Roman Suskunlar (Die Schweigenden) des türkischen Schriftstellers İhsan Oktay Anar. An diesen Autor schließt Mithatcan Öcal vielfach an, auch in anderen Werken. Insbesondere der spezifische Humor Anars, der aus der Diskrepanz von altertümlicher Sprache und heutiger, teils höchst aktueller Thematik besteht, inspiriert ihn zu Übernahmen in seine Musik. Ironie und Komik finden sich dabei sowohl in der Musik selbst – Yine Bir Gül Nihal ist dafür ein bereits erwähntes Beispiel – als auch in ihren Paratexten. Zu Alessandro Perevelli existiert beispielsweise ein Vorwort, das die Gefährlichkeit der Musik betont und dem Hörer sogar eine vorab zu unterzeichnende Risikoerklärung unter die Nase hält (um Regressansprüchen im Falle ewiger Verdammnis zu entgehen).

               Das Komische und das daraus entspringende Lachen sind Strategien, mit deren Hilfe die Musik Mithatcan Öcals Bezug auf ihre gesellschaftliche Gegenwart nimmt. Nicht nur durch ihren Bezug auf Literatur erhellt sie dadurch eine ganz spezifische Sprachlichkeit: Belt of Sympathies trägt im Untertitel die (seinerseits ironisch gebrochene) Gattungsbezeichnung „Mini-opera without words“ – und das vollkommen zu Recht, wie sich hörend leicht nachvollziehen lässt. Zugleich hat dieser Humor einen existenziellen Grund; wie die Solidarität in der Gruppe Gleichgesinnter ist er im Wortsinne lebenswichtig, er verbürgt die Möglichkeit von Kritik und Reflexion und die Wahrung der Distanz zu allem Offiziösen. Dem musikalischen Freibeuter Mithatcan Öcal dient er als Enterhaken, um die Realität zum Beidrehen zu zwingen.