Lisa Streich

Lisa Streichs Musik zwischen Akribie und Glaube, Dies- und Jenseits

von Rainer Nonnenmann

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Wie die Fittiche von Seraphim und Cherubim spannen zwei Harfen ihre goldgeschwungenen Bögen um das in der Mitte platzierte Ensemble. Sonst zurückhaltender mit Glaubensbekenntnissen nutzt Lisa Streich in GRATA für Violoncello und Ensemble (2011) eine offenbar biblisch konnotierte Besetzung. Symbolisch zu verstehen ist auch die Faktur des Stücks. Zwischen Liegeklängen der Streicher, fauchenden Clustern der Orgel und metallischen Fortissimo-Stößen der fünf apokalyptischen Posaunen erscheint das Solocello als einsame Vox humana, mit zerbrechlichen Kantilenen, atemhaften Flageoletts und zitternden Rezitativen. Zudem enthält die Partitur Verse aus dem Gloria des lateinischen Messordinariums, die zwar nicht gesprochen werden, gleichwohl aber auf das Leben und Sterben des Menschen- und Gottessohnes Jesus Christus verweisen: „Domini fili unigenite“, „Agnus dei“, „qui tollis peccata mundi“… Das Lamm Gottes starb am Kreuz zur Sühne der Welt. Ebenso bleibt das Violoncello plötzlich mit einem Solo allein, von allen verlassen: Ecce homo. Als zartes Werden und Vergehen der Klänge entfaltet sich auch Streichs filigranes Duo SERAPH für Violoncello und Orgel (2013), das der Hörer als Sinnbild flüchtiger Existenz erleben kann, aber nicht muss.

Die 1985 in Schweden geborene Komponistin und Organistin trägt den spirituellen Hintergrund ihrer Musik nicht missionarisch vor sich her. Neben tief existenziellen Fragen prägen ihr Schaffen auch Alltägliches und Einfaches. Doch selbst ohne programmatische Titel, Texte und Kommentare hört man ihren Werken an, dass es um Wesentliches geht. Dabei verdankt sich die Ausdruckskraft ihrer Musik klar gesetzten Materialien und differenzierten Strukturen. Beispielsweise schreibt Lisa Streich oft sechs Geschwindigkeitsstufen vor, mit denen Streicher ihre Bogenführung gestalten, Harfenisten über die Saiten fahren und Posaunen mit ihren Zügen glissandieren. Voraussetzung jeden Bekenntnisses durch Musik ist zunächst einmal größtmögliche Genauigkeit des Komponierten und Notierten. Während sich der Titel ASCHE für Klarinette und Violoncello (2012) mehrdeutig auf Verbranntes, die Fastenzeit oder profan-umgangssprachlich auf Geld bezieht, sind Satztechnik und Form des Stücks umso eindeutiger gestaltet als ein Prozess der gegenseitigen Annäherung des Blas- und Streichinstruments über alle klangliche Differenz und räumliche Distanz hinweg. Das mittig auf der Bühne platzierte Cello und die möglichst weit rechts davon entfernte Klarinette spielen anfangs konsequent abwechselnd. Dadurch kommen sie zwar nie simultan zusammen, verzahnen sich aber nahtlos zu einer einstimmigen Linie, bis die Instrumente schließlich durch erweiterte Spielpraktiken, Mehrklänge und Unisoni in hoher Lage miteinander verschmelzen. Man kann diese instrumentale Anamorphose theologisch als Aufhebung des prinzipio individuationis deuten, braucht dies aber nicht, denn der rein musikalische Vorgang und die sirrenden Schwebungen und Differenztöne, die sich sehr physisch und durchaus quälend dem Gehör einschreiben, sind bereits spannend genug.

Streichs Œuvre umfasst Vokal-, Chor-, Solo-, Kammermusik-, Ensemble- und Orchesterwerke, darunter AUGENLIDER für präparierte Gitarre und Orchester (2015), ferner die Taschenoper …MIT BRENNENDEM ÖLE … (2011) auf alt- und neutestamentliche Texte sowie elektronische Kompositionen und Stücke für elektronisch und mechanisch erweiterte Instrumente. In PIETÀ (2012) werden die Cellosaiten auch unabhängig vom Spieler mit dünnen Papierstreifen bearbeitet, die an kleinen Motoren rotieren, so dass der martyriumhaft traktierte und mikrophonierte Cellokorpus ein maschinelles Eigenleben entfaltet. Diese skurrile Symbiose aus spielerischer Mechanik und der österlichen Idee der Auferstehung des Gekreuzigten erweiterte Streich in SAI BALLARE? für Klaviertrio (2015) sowie ZUCKER für „motorisiertes Ensemble“ (2016). Um den Zauber unbelebter Materie und zufälliger Koinzidenzen geht es in ihrer Konzertinstallation DER ZARTE FADEN DEN DIE SCHÖNHEIT SPINNT (2014). Vier Schlagzeuger tasten durch lose Klangfolgen und verdichten sich nur stellenweise zu synchronen Tutti-Aktionen. Dazu ziehen sie von Zeit zu Zeit an einem über Seilwinden gespannten Faden, von dem kleine Streifen aus Metall, Plastik, Leder und Pappe über Perkussionsinstrumente, Eierschneider, Flaschen und Gläser streichen. Die Beiläufigkeit der delikaten Klangresultate sowie die zwischen Spielern und Objekten changierende Rollenverteilung entfalten große Intensität und Magie. Lisa Streichs Musik ist von einwickelnder Schönheit, zugleich ernst und verspielt, kraft- und bedeutungsvoll, körperlich, grausam und zart – nicht nur von dieser Welt.