Brigitta Muntendorf

Musik im Kontext

Kunst ist nie rein. Immer haften ihr Spuren ihrer Herkunft und Funktion, ihrer gesellschaftlichen Rolle und ihrer kulturellen Codierung an, durch unzählige Fäden ist sie mit den sie umgebenden Kontexten verwoben. Um dennoch eine Grenze zu ziehen, um der Kunst einen eigenen, isolierten Raum zuzuweisen, in dem bestimmte Konventionen gelten, stellt man Bilder in einen Rahmen, Skulpturen auf einen Sockel, Schauspiele auf die Bühne und Musik in den Konzertsaal. Oder aber man verzichtet auf solche Vorkehrungen und entdeckt gerade im tatsächlichen Ungeschiedensein von „Kunst“ und „Leben“ ein besonderes ästhetisches Potential.
Genau das tut die Komponistin Brigitta Muntendorf in ihrer Musik, und sie beweist damit, dass es in ästhetischer Hinsicht allemal interessanter ist, Expeditionen ins Offene zu starten als im Dunstkreis des Vertrauten zu verharren. Komponieren als praktizierte künstlerische Forschung, das Experimentieren mit offenem Ausgang und das mutige Erkunden noch nicht kartierter Handlungs- und Ausdrucksfelder sind Grundzüge von Brigitta Muntendorfs Poetik und hervorstechende Charakteristika ihrer Kompositionen. Ihre Werke ähneln oft Versuchsanordnungen: Ob sie sich einem ungewöhnlichen und noch kaum genutzten Materialfundus widmet oder mit kompositorischen Mitteln bestimmte musikalische Handlungsformen durchleuchtet, ob sie die Untiefen musikalischer Floskeln auslotet oder die durch Internet und social media entstandenen neuen Kunstformen des digitalen Zeitalters in ihr Schaffen einbezieht – niemals wird bei ihr bloß das Gesicherte verwaltet oder das zweifelsfrei Beherrschte repetiert, es wird vielmehr gesucht, ausprobiert, riskiert.Eines der jüngsten Projekte Brigitta Muntendorfs, die Werkreihe Public Privacy für Soloinstrument, Video und Zuspielung, zeigt das besonders deutlich: Die Komponistin kombiniert darin Youtube-Videos, in denen Menschen ihre Lieblingssongs nachspielen, mit einem Geschehen in Echtzeit, das sowohl auf die musikalische als auch auf die latent szenische Dimension der Videofilme eingeht. Deren typische Gesten und Handlungen, in denen sich die Paradoxie der Aufführungssituation spiegelt – daheim im eigenen Zimmer, allein mit sich und einer Kamera, durch deren Linse gleichwohl ein virtuelles Millionenpublikum via Internet hereinschaut –, greift das Soloinstrument auf der Bühne auf, dekonstruiert und repliziert sie. Überdies wird die Aufführung ihrerseits gefilmt und den Videos hinzugefügt. Das Resultat ist ein ebenso aufregendes wie irritierendes mise en abîme auf mehreren Ebenen, ein sich in alle Richtungen verzweigendes Palimpsest, das die Musik und ihre mediale Repräsentation ineinander verschränkt. 
Brigitta Muntendorfs Interesse am Vermischten, Unreinen, an den Hybriden der Kultur hat sie konsequent zu einer spartenübergreifenden Kombination von Performance, Theatralik, Elektronik und multimedialen Elementen geführt. Ihr aktuelles Schaffen im Bereich des experimentellen Musiktheaters lotet denn auch konsequent die Bedeutungsebenen von Musik und Szene aus. Dabei interessiert sich die Komponistin insbesondere für das musiksprachliche Potential von Emotionen. In Stücken wie Sweetheart, Goodbye! (2012) für Stimme/Schauspielerin und acht Instrumente filtert sie zunächst aus der Textvorlage (die auf Szenen aus James Joyces Ulysses basiert) eine eigenständige Schicht von Emotionslauten heraus, die dann in instrumentale Klänge übersetzt werden. Das so gewonnene musikalische Material lässt sich kompositorisch formen, bewahrt aber zugleich etwas von der semantischen Eigensinnigkeit seiner Herkunft.
Eigensinn, verstanden als ästhetische Unverwechselbarkeit, herrscht schließlich auch in Abschminken ... der kurze Rest vom langen Ende (2012). In Zusammenarbeit mit dem Videokünstler Jürgen Palmer inszeniert Brigitta Muntendorf in dieser multimedialen Miniatur ein Spiel mit Identitäten und Projektionen, in dessen Camp-Ästhetik abgehalfterte Mimen und Bachsche Musik Erinnerungen an ein längst verlorenes Bühnenleben beschwören. Musiktheater wird hier zum Ort quasi stereoskopischer Durchblicke auf den backstage-Bereich von Kunst, es reichert sich an mit jenen Kontexten, die sich „Leben“ nennen. Deren Einbezug macht die Qualität und den besonderen ästhetischen Gewinn von Brigitta Muntendorfs Musik aus.

Markus Böggemann