Clara Iannotta

Zur Musik Clara Iannottas

Der erste Eindruck, den man von Clara Iannottas Partituren hat: Sie sehen anders aus, auf eine nicht leicht zu bestimmende Art verschieden vom Schriftbild vieler zeitgenössischer Musik. Nicht, dass die 1983 in Rom geborene Komponistin in besonderem Maße von etablierten Konventionen abwiche, nur ihr eigenes Zeichensystem nutzte oder auf Formen musikalischer Grafik zurückgriffe – nein, die Differenz ist anderer Art: Die Partiturseiten erscheinen luftig und durchlichtet, was sich auf ihnen ereignet, hat Zeit und Raum, sich zu entfalten und wahrgenommen zu werden.
Und es ereignet sich einiges in dieser Musik, auf eine Weise, die ihrer optischen Anmutung in mancher Hinsicht entspricht. Clara Iannottas Kompositionen gleichen Räumen, die die Wahrnehmung sich nach und nach erschließt, sie entfalten in der Zeit, was bereits vom ersten Klang in ihnen angelegt ist. Für ihr 2015 entstandenes Ensemblewerk Troglodyte Angels Clank By (der Titel entstammt einem Gedicht von Dorothy Molloy) hat die Komponistin das in das Bild eines dunklen Raumes gefasst, dessen Atmosphäre ganz aus Staub besteht. Zunächst lässt sich in der opaken Schwärze nichts unterscheiden, doch passt sich das Auge nach und nach der Dunkelheit an, nimmt die Partikel in der Luft und die Schattierungen des Dunkels wahr, bis schließlich ein einzelner hineinfallender Lichtstrahl alles in eine komplett neue Perspektive hineinreißt. Für die Komposition bedeutet das ein Überwiegen von Texturen, aus denen sich allmählich Einzelereignisse – Instrumente, Farben, distinkte Klänge – herausschälen. Nicht Motive und ihre Entwicklung bestimmen den Fortgang dieser Musik, sondern das stete Umschichten und Neubeleuchten, Aufladen und Filtern eines komplexen Klangaggregats.
Clara Iannottas Kompositionen erzählen keine Geschichte, sondern entfalten eine Physiognomie. Sie entwerfen Wahrnehmungsräume, in denen das Ohr, bildlich gesprochen, umherwandern und Erfahrungen machen kann. Ihre konkrete Oberflächengestalt ergibt sich dabei, so die Komponistin, gleichsam durch die Ausstrahlung und Reflexion eines unter dieser Oberfläche verborgenen Objekts. In dead wasps in a jam-jar (ii) für Streichorchester (2016) ist dieses Objekt, sehr konkret, ein anderes Werk. Die erste Fassung, eine Auftragskomposition für Violine solo, die sich mit Bachs Courante und Double aus der Partita BWV 1002 auseinandersetzen sollte, erweiterte und rekomponierte Clara Iannotta für die größere Besetzung. Die unablässigen Sechzehntelkaskaden der Vorlage sind hier in Wellen und Wirbel von unterschiedlichsten Reibeklängen transformiert, manchmal an der Grenze der Hörbarkeit. Zu den durchweg gedämpften und präparierten Streichinstrumenten kommen noch Lockpfeifen, Waldteufel, Zymbeln und andere Objekte hinzu, mit denen die Komponistin einen zugleich fantastisch bestückten und sehr realen Klangraum entwirft. Dahinter steht eine experimentelle Sensibilität, die sich nicht mit dem Üblichen, dem eingespielten Gebrauch der Dinge, der Klänge und Instrumente zufrieden gibt. Schon als Kind dazu angehalten, ihr Spielzeug selber zu bauen, sucht Clara Iannotta die verborgenen Potentiale des Gegebenen, imaginiert sie das Kontraintuitive, das verdeckte Andere und macht seine Möglichkeit in den Räumen ihrer Musik ästhetisch plausibel, ja zwingend.
Es versteht sich von selbst, dass ein solcher Ansatz auch in den realen Raum hinaus drängt: So arbeitet Clara Iannotta zur Zeit zusammen mit der Künstlerin Anna Kubelík an einem Projekt für Stimmen, Instrumente, Tänzer und Elektronik, in dem der reale Raum der sich bewegenden Körper und der imaginäre Raum der Musik sich durchdringen und beeinflussen. Solche Grenzüberschreitungen sind charakteristisch für das Komponieren Clara Iannottas. Ihre Musik eröffnet Spielräume künstlerischer Fantasie in einer Weise, die an die Poetik Italo Calvinos denken lässt: durch Anschaulichkeit und Vielschichtigkeit, durch Leichtigkeit und Präzision.

Markus Böggemann

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