Simone Movio

Gelenkte Träume

In Jorge Luis Borges‘ literarischem Kosmos existiert ein unscheinbarer Gegenstand, der über eine dämonische Kraft verfügt: der Zahir. Wer ihm begegnet, für den tritt nach und nach alles andere in den Hintergrund. Der Zahir hat die Eigenschaft, das gesamte Universum zu verdrängen: „Die Zeit, die die Erinnerungen abschwächt, verstärkt die an den Zahir. Früher stellte ich mir zuerst die Vorder-, dann die Kehrseite vor; heute sehe ich beide gleichzeitig. […] Alles, was nicht der Zahir ist, erreicht mich gedämpft, wie von fern.“ In dieser literarischen Metapher kondensiert sich die (mehr poetische als weltanschauliche) Idee, dass ein Ganzes in jedem seiner Teile enthalten ist. Borges und andere haben ihr dichterischen Ausdruck verliehen. Im Werk Simone Movios findet sie zu musikalischer Gestalt.
Dass der Komponist eine ganze Serie von Stücken nach dem von Borges imaginierten Gegenstand benannt hat, ist dabei nur die Außenseite der Faszination, die von dieser Vorstellung ausgeht. Entscheidender sind die Möglichkeiten der musikalischen Gestaltung, die sich daraus ergeben. Denn was im Medium der Literatur entworfen und in seinen Konsequenzen ausgemalt wird – alternative Formen der Zeit und des Raumes –, das lässt sich in der Musik tatsächlich erschaffen und sinnlich erfahrbar machen. Zahir V (2011/12) für Saxophonquartett beispielsweise entfaltet seinen Formverlauf aus einer Abfolge von Zellen, die sich in Klang und Bewegungstyp stark voneinander unterscheiden. Erst vom Ende des Stückes her wird klar, dass es sich dabei um einen – diskontinuierlichen und nicht-linearen – Reduktions- und Konzentrationsprozess gehandelt hat. Dessen Ergebnis versammelt in äußerster Verdichtung all das, was sich zuvor ereignete. Die Musik realisiert hier, was der Zahir bewirkt: einen „sphärischen Blick“, der Vorder- und Rückseite, Innen und Außen, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zugleich wahrnimmt.
Die Vorstellung eines „nunc“ bzw. „hic stans“ (wie es bei den Scholastikern heißt), einer Aufhebung unserer Anschauungsformen von Zeit und Raum, geht einher mit der Entmachtung des Subjekts. Wo alles in einem Augenblick gegeben ist, da spielt das Ich und seine Weltsicht keine Rolle mehr. Das ist in künstlerischer Hinsicht durchaus kein Verlust, und der folgerichtige Verzicht Simone Movios auf Selbstbespiegelung und auf das Ausstellen von Befindlichkeiten in seiner Musik hat etwas ungeheuer Befreiendes. „Objektivität“ im Sinne einer überpersönlichen Gestaltungskraft eignet demnach allen seinen Werken; sie zeigt sich in der wohlbegründeten Scheu vor Pathosgesten und nicht zuletzt im Verzicht auf offenkundige Handlungsträger des musikalischen Verlaufs, wie ehedem das „Thema“ einer war. Musik ist für Simone Movio stattdessen eine anspruchsvoll gestaltete Form von Zeit. Seine Kompositionen entwerfen dabei Erfahrungsräume, die uns außerhalb der Kunst unzugänglich blieben. Was Borges von der Literatur sagt, das gilt auch für die Musik Simone Movios: Sie ist nichts anderes als ein gelenkter Traum.

Markus Böggemann