Fotos: Rui Camilo

 

Metareflexion, Überformung und Trendforschung in der Musik von Malte Giesen

von Leonie Reineke

Malte Giesen stellt oft als erstes fest, was eigentlich nicht geht: etwa in der „Königsdisziplin“ Streichquartett ein innovatives, originelles, handwerklich raffiniertes und am besten gleich einzigartiges neues Werk zu erschaffen. Oder auch große Gattungen wie das Klavierkonzert oder die Oper – mit dem musikhistorischen Kanon im Rücken – zu bedienen, ohne dabei ihre formalen Rahmen grundsätzlich in Frage zu stellen. Ebenso scheint es ihm unmöglich, eine im Wortsinne „neue“ Musik zu erfinden, die ausschließlich auf alten Instrumenten gespielt wird. Kurz gesagt: Das Komponieren beginnt für Malte Giesen häufig mit einem Problem. Und dennoch entsteht daraufhin keine Musik der Verweigerung oder der Resignation, im Gegenteil. Es entsteht eine Musik der produktiven Überformung des Problems, des neugierigen Weiterdenkens – eine komponierte Flucht nach vorne.

Deutlich zeigt sich dieser Ansatz in einer Reihe von Remix-Stücken, die Giesen auf der Basis bestehender Vorlagen aus dem 18. und 19. Jahrhundert komponiert hat. So schickt er in seinem „Divertimento. Veränderung an Oberflächen“ (2014) Ausschnitte aus den drei „Divertimenti KV 136-138“ von Wolfgang Amadeus Mozart durch den digitalen Schredder. Mit einer Fülle von Techniken aus der DJ-Kultur werden Fragmente der Mozart-Vorlage elektronisch bearbeitet und mit Effekten versehen – etwa gesamplet, geloopt, beschleunigt, verlangsamt oder von kurzen Störgeräuschen durchbrochen. „Ich wollte“, sagt Giesen, „etwas, das in einer früheren Epoche als Unterhaltungsmusik gegolten hat – das Divertimento –, mit üblichen Verfahren aus der heutigen Unterhaltungsmusik kombinieren. Und dazu gehören vor allem die technische Bearbeitung und die Reproduktion. Wir rezipieren Musik mittlerweile eindeutig häufiger über Kopfhörer oder aus Lautsprechern als live im Konzert.“

Ein künstlerischer Kommentar, ein Weiterdenken der Musik kann für Giesen nur dann erfolgen, wenn die gegenwärtigen Bedingungen ihrer Rezeption in den Arbeitsprozess einbezogen werden. Und dazu gehört die Präsenz von (Kunst-)Musik in der medialen Konserve und in einer technisiert-digitalen Alltagsumgebung. Ganz selbstverständlich schließt diese Umgebung für Giesen auch die Verwendung von Elektronik mit ein, allerdings weniger als zusätzliches Musikinstrument denn als Werkzeug zur Analyse, Verfremdung und Erweiterung der Möglichkeiten. So hat Giesen in seiner „Massenprozession“ für Kammerorchester und Zuspiel (2020) den zweiten Satz der 7. Sinfonie von Ludwig van Beethoven 1024-fach elektronisch vervielfältigt. Die Orchestermusiker spielen in einer Art multiplem Superensemble mit sich selbst. Dabei treten sie mal mehr, mal weniger in den Vordergrund. Versetzte Einsatzzeitpunkte und unterschiedliche Abspielgeschwindigkeiten der Spuren erzeugen eine Schwarmwirkung in der Musik, die stellenweise auch zum Stillstand führt: „Manchmal entsteht der Eindruck“, so Giesen, „ein Abschnitt von mehreren Takten sei in einem einzigen akustischen Moment eingefroren. Der Sound der Stelle bleibt klar erhalten, aber der zeitliche Verlauf ist aufgehoben – als würde man in einem Bild alle vertikalen Pixel entfernen und nur die horizontalen übrig lassen.“

Für Verfremdung durch elektronische Erweiterungen steht auch Malte Giesens „Konzert für hyperreales Klavier und Orchester“ (2018). Hier spielt der Solist auf einem sogenannten TransAcoustic-Flügel der Firma Yamaha, mit dem sich nicht-klaviertypische musikalische Merkmale wie Mikrotonalität, Glissandi oder übermenschliche Repetitionsgeschwindigkeiten realisieren lassen. Indem die Klaviatur von den Saiten entkoppelt und mit Sensoren verbunden ist, dient sie gewissermaßen als Keyboard, dessen Signale über Transducer auf den Resonanzboden des Flügels übertragen werden. So wird der Instrumentenkorpus selbst zum Lautsprecher, mit dem die akustischen Eigenschaften eines konventionellen Konzertflügels exakt simuliert werden. Anstatt der allgegenwärtigen Stereo-Beschallung, die Giesen in ihrer Künstlichkeit mit einer 2D-Beamer-Projektion vergleicht, wird dem Publikum also eine erweiterte Realität vorgespielt – ein Flügel, der Unmögliches möglich macht und der eine Frage verhandelt, die auch in andere Lebensbereiche hineinreicht: Was bedeutet es, wenn die Kopie „besser“ ist als das Original?

Eine Erkundung der Differenz zwischen Original und ihrem – womöglich übersteigerten, sublimierten – Abbild bestimmt auch das multimediale Musiktheater „FRAME“ (2018–20). Die Figuren sind die an der Entstehung des Stückes tatsächlich Beteiligten, vom Komponisten Malte Giesen bis hin zur überzeichneten Figur der Festivalleiterin, die den Kompositionsauftrag vergeben hat. „In der zeitgenössischen Musik“, so Giesen, „wurde in den letzten Jahren immer wieder die Kritik laut, das Feld sei zu abgekoppelt von alltäglichen Lebenserfahrungen, zu selbstreferentiell. Und genau diese Problematik hat mich gereizt. Mir kam der Gedanke, mich ihr zu stellen, indem ich ein Musiktheaterstück entwickle, das maximal selbstbezogen ist. So ist mit ‚FRAME‘ ein Stück entstanden, das praktisch das Making-of von sich selbst ist.“ Was zunächst wie ungehemmter Egozentrismus wirken mag, entpuppt sich letztlich als das Gegenteil. Denn gerade das permanente Meta-Thematisieren des Gegenstandes und seiner Rahmungen erweitert das Blickfeld und die Möglichkeiten der Urteilsbildung.

Ohnehin ist das Einnehmen einer (mitunter kritischen) Beobachterperspektive für Malte Giesen gängige Praxis. Sein ausgeprägtes Interesse an Entwicklungen in Alltags-, Pop- und Netzkultur sowie das damit verbundene Aufspüren von zeitspezifischen Phänomenen und aktuellen Trends sorgen für einen allzeit gefüllten Ideenpool. Dass in den daraus entstehenden Kompositionen auch immer die unmittelbare Selbstverortung des Komponisten auf diesem Terrain eine Rolle spielt, davon zeugen Stücktitel wie „stock footage piece 1: business“ oder „Septett für Ebay-Geigen, Verstärker und Effektgeräte“. Allerdings belässt er es nicht beim Sammeln von Eindrücken oder Artefakten und deren Zurschaustellen, etwa durch Zitate oder Samples. Vielmehr sind seine Arbeiten von fantasievollen Analysen, Deutungen und Schlussfolgerungen durchdrungen. Und ob in einen ernsten Tonfall oder in schrägen Humor verpackt: Malte Giesens Musik ist das Resultat einer aktiv gelebten und konsequent mitgedachten Zeitgenossenschaft.