Fotos: Jonas Opperskalski

 

Unvollendete Klanggebilde werden zum Ausdrucksmittel schlechthin

von Assaf Shelleg

Nach Abschluss seines Doppelstudiums in Komposition und Informatik an der Universität Tel Aviv begann Yair Klartag mit seiner Ausbildung an der Musikhochschule der Universität. In der Fakultät für Komposition gehört es dort seit mindestens fünf Jahrzehnten zum Habitus, sich aktiv von nationalen israelischen Topoi abzugrenzen. Dem schlossen sich am Institut auch die jüngeren Jahrgänge der ProfessorInnen für Komposition an, darunter mehrere ehemalige Studierende. Auch sie lehnten zunächst das nationale Diktat aktiv ab, um dann den nationalen Resonanzboden ganz zum Verstummen zu bringen. Einige schöpften dabei aus vormodernen exiljüdischen Musikkulturen, während sich die Mehrheit für modernistische und zeitgenössische europäische Stilrichtungen entschied. (Im Grunde genommen fühlte sich der Zionismus seit den frühesten Anfängen allem „Westlichen“ verpflichtet.) Das kam vielen zugute, zumal die vom Territorialismus befreite Universalität nicht nur eine „national“ verwaiste Musik hervorbrachte, sondern – und vor allem – auch modernistische kompositorische Couleurs, die sich sowohl von Tropen der Andersheit als auch von postmodernen Patrimonien fernhielten.      

Vermutlich ist Klartag deshalb eher vertraut mit den Werken von György Ligeti, Helmut Lachenmann, Rebecca Saunders und George Friedrich Haas (bei dem er später an der Musik Akademie der Stadt Basel und an der Columbia University studierte) als mit der Musik der emigrierten KomponistInnen, die seine ProfessorInnen in Israel ausbildeten. Wie zu erwarten, verraten daher Klartags Werke keinerlei Interesse an einer Positionierung gegen das herrschende System nationaler Repräsentationen (mit denen er nie in Berührung kam) oder gegen die Heteronomie postmoderner Anleihen (die er leicht amüsant finden dürfte).  Doch während ihn nationale und ästhetische Manifestationen relativ unbeeindruckt lassen und er ihrer kommunikativen Infrastruktur entsprechend misstraut, bemüht er sich unerbittlich um eine Umfunktionierung von Ironie, Zynismus und der unausbleiblichen Expressivität des Modernismus (wie auch in einigen Beispielen der unausbleiblichen Sentimentalität, um den Titel seines Werks für Ensemble von 2017 zu paraphrasieren), wohl wissend, dass es unmöglich ist, deren Authentizität in Frage zu stellen. Diese Gleichzeitigkeit von Skepsis und Distanz macht sein Schaffen aus.  

Vor diesem Hintergrund können wir uns einem Werk wie Goo-prone (2017) für Saxophon, Posaune, Klavier, Akkordeon und Cello nähern. Seinen Titel verdankt es David Foster Wallace’ Infinite Jest (“Hal theoretisiert insgeheim, dass das, was als hippe zynische Gefühlsüberlegenheit daherkommt, in Wirklichkeit eine Art Angst davor ist, wirklich menschlich zu sein, denn wirklich menschlich…bedeutet wahrscheinlich, unausbleiblich sentimental und naiv und anfällig für Gefühlsduselei <goo-prone> und überhaupt bedauernswert zu sein, auf eine elementare innerliche Weise für immer infantil zu sein”)[1]. Expressive Gesten schleichen sich in diesem Werk hinter eine polyphone Schichtung quasi motorisierter Assemblagen und schillernder Harmonien, von denen sie durchkreuzt werden. Doch bevor sie mimetische Qualitäten annehmen können, werden sie auf halbem Weg zum Stillstand gebracht. Die Produktion von Präsenz verlagert sich also in Goo-prone von der Identifikation von Sinn hin zu Problemen mit der Entstehung von Sinn (um Hans Ulrich Gumbrecht zu paraphrasieren).

Klartags Moments incommunicables (2011) für Gitarre, Flöte, Klarinette, Violine und Cello, um ein weiteres Beispiel zu nennen, scheint das zu verdichten und zu verstärken, was der Komponist für unkommunikativ hält. Doch auch hier verzichtet Klartag in seinen Formulierungen bewusst auf bedeutungsbeladene Bezüge, die seine unvollendeten Klangstrukturen in den Hintergrund drängen würden. Die wenigen Äußerungen, denen es gelingt durchzuschlüpfen, sind deshalb nur kurzlebig. Sie versuchen (vergeblich), sich aus dem Vordergrund zu lösen, der aber nur die Entstehung von Bedeutung präsent macht.

In dem Stück Con forza di gravità (2013) für Streichorchester sorgen schon allein die absteigenden mimetischen Trajektorien dafür, dass der Titel keiner Erklärung bedarf. Hier werden durch die bloße Bewegung der Klanggebilde semantische Schleifen exponiert und neu erschaffen. Das kann so weit gehen, dass sich die Schleifen bisweilen zu einem semantischen Schwindelgefühl verdichten, während Klartag den objektiv mimetischen Mechanismus des Werks aufdeckt. Er tut es in der Gewissheit, dass seinen ZuhörerInnen die Offenlegung dieses Mechanismus bewusst wird, und erwartet gleichzeitig von ihnen, gerade diese Gegenseitigkeit der Selbstwahrnehmung ans Licht zu bringen. Somit offenbart die Musik vorsätzlich ihre Nichtauthentizität.

Klartags unvollkommene Klanggebilde lassen somit zwar entzifferbare kompositorische Elemente erkennen, doch dank seiner semantischen Verdrehungen bleiben diese inkommensurabel. Gleichzeitig wird die kalkulierte und sich ihrer selbst bewusste Nichtauthentizität – die der Bloßlegung dieser Komponenten verpflichtet ist – zum Ausdrucksmittel schlechthin.

 

[1] Foster Wallace, David: Infinite Jest, Boston, New York, London 1996, S. 694-695.