Fotos: Rui Camilo

 

Catherine Lambs Innenräume

von Ryan Dohoney

Maryanne Amacher nahm in ihrem grundlegenden Aufsatz Psychoacoustic Phenomena in Musical Composition die Leistung des Hörers bei der Wahrnehmung „immersiver Klangarchitekturen“ sehr Ernst: „Der Umstand, dass Ohren ihre eigenen Klänge produzieren wird von der Wissenschaft uneingeschränkt anerkannt. Und dennoch: Weder in der Musiktheorie noch im Bereich der Komposition wird dieser verblüffenden Funktion unserer Ohren bislang bewusst Rechnung getragen.“[1] In einem Vortrag, gehalten gegen Ende 2019 in Chicago, folgt Catherine Lamb Amachers These, wobei sie sie ein wenig variiert:  Wir sind im Zeitalter des Hörers angekommen. Unsere musikalischen Verfahren müssen die Tatsache anerkennen, dass Hörer, Musiker und Komponisten gemeinsam musikalische Welten erschaffen, so ihre Darstellung. Weder entsagt Lamb jedoch jeder Intensionalität, noch gibt sie sich mit einer bankrotten Aufmerksamkeitsökonomie zufrieden, deren Erfolgskriterien letztlich auf den Dopamin-gesteuerten Trieb hin zur nächsten genussvollen Ablenkung hinauslaufen. Auch ist es nicht ihr Ansinnen, dass das Hören eine wissenschaftliche Kompositionsmethode bestimmt, gewonnen aus messbaren kognitiven Reaktionen.

Vielmehr öffnet Lambs Musik einen Raum, in dem wir Hörer uns in einen Zustand der Des- und Neuorientierung versetzt finden, in dem wir uns die Frage stellen: Wer sind wir als Hörer? Sie nimmt Prozesse wahr, in denen wir „akustische Informationen spezifizieren, um daraus eigenständige, transformativen Erlebnisse entstehen zu lassen“ (Amacher).[2]

Die außergewöhnliche Fülle von Lambs Musik hat einiges mit den Epistemen zu tun, denen sie sich verpflichtet fühlt (dhrupad, durch ihren Mentor Mani Kaul, die Reine Stimmung durch James Tenney, psychoakustische Verfahren durch Marianne Amacher), ist jedoch nicht auf sie allein zurückzuführen.

Ihr Fokus auf das, was sie als „Interaktion des Klangs“ bezeichnet, lädt uns dazu ein, sowohl ‚Interaktion‘ als auch ‚Klang‘ weit auszulegen. Tatsächlich interagieren die Instrumente, Techniken, Persönlichkeiten und Geschichten ihrer Musiker und Hörer einzigartig und unwiederholbar als Klang. Wer an Lambs Musik teilhat, für den wird Hören zu einem sich ständig wandelnden Bewusstein einer Innerlichkeit, dessen Umfang sich spiralförmig erweitert ausgehend von meinem eigenen psychoakustischen Erleben, zum gemeinsamen Erfahrungsraum des Aufführungsortes bis hin zu einem globalen Sinn des Hörens, jenseits jener Grenzen, die die Musik zieht.

Eine erst kürzlich gehörte Aufführung von Lambs Musik hat den Anstoß zu diesen Zeilen gegeben. An einem der kürzesten Tage des Jahres in Chicago durfte ich im Festsaal im zweiten Stock einer umfunktionierten Villa an der Gold Coast Catherine (an der Bratsche) erleben, gemeinsam mit ihrer Kollegin und Freundin, der Flötistin Rebecca Lane sowie Olivia Block (am Synthesizer). Sie spielten Prisma Interius IV bei der Graham Stiftung. Prisma Interius IV ist Teil einer Werkserie, die Lamb seit 2017 für den „secondary rainbow synthesizer“, Instrumente und Stimmen entwickelt. Lamb hat diesen „secondary rainbow synthesizer“ 2014 gemeinsam mit Bryan Eubanks erdacht. Während einer Aufführung bringt er mittels nah an der Bühne platzierten Mikrophonen live Bandbreitenfilter mit aufgezeichneten zusammen.

Abhängig von den wiedergegebenen Frequenzen der Klänge von außerhalb, ist die Identität der Umgebung jenseits des Bühnenraums mal mehr und mal weniger identifizierbar. Was als leises Rumoren und anhaltendes Dröhnen beginnt, nimmt im Verlauf des Konzerts den Klang von Sirenen und bellenden Hunden an und verwebt so Stadt und Bühnenraum miteinander zu einem sich weitenden Innenraum, in dem Hörer, Musiker und die urbane Klanglandschaft zusammen (ge-)hören.

Die von Lamb gebotene harmonische Fülle lässt uns mehr als die gespielten Töne hören. Wir werden in eine ganze Welt gespült, die behutsam aus Lambs und Lanes Klängen geformt wird. Aus diesem inneren Schloss werden wir verdrängt, wenn wir beobachten, wie Lamb ihre eigenen Grenzen wahrt, indem sie ihre Augen schließt und inmitten der sie umschwirrenden Klangfetzen wie für sich allein singt und spielt.

Prisma Interius lässt sich mit ‘inneres Prisma’ übersetzen – ein Konzept, das genau beschreibt, worum es Lamb mit ihrer Musik geht: die Brechung, Dopplung und schließlich Explosion eines kristallinen Raumes, der unsere Interaktionen im Klang sowohl beschützt als auch begrenzt.

 

[1] Maryanne Amacher, “Psychoacoustic Phenomena in Musical Composition: Some Features of a Perceptual Geography”, in: Arcana III: Musicians on Music, ed. John Zorn (New York: Tzadik, 2008), S. 9–24, S. 13.

[2] Ebd., S. 10.