Zeitlichkeiten

Zur Musik Francesca Verunellis

Lieder ohne Gesang. Eine zwanzigminütige Komposition über eine dysfunktionale Maschine. Ein Blumenstück, das explodiert. – Was in dieser Zuspitzung bizarr anmuten mag, wie ein Blick in die Requisitenkammer eines anarchistischen Komikers, das sind tatsächlich Ausformungen einer reichen musikalischen Fantasie, hochpoetische Konstellationen, die aus der Arbeit an kompositorischen Problemstellungen erwachsen. Für Francesca Verunelli nämlich bedeutet Komponieren das Aufwerfen künstlerischer Fragen, die ihre vorläufige Antwort in dem entstehenden Werk finden; es bedeutet das Formulieren von Paradoxa, die nur im Kunstwerk sinnfällig werden können; und es bedeutet nicht zuletzt das Ins-Werk-Setzen eigener ästhetischer Erfahrungen, um sie auch für andere erfahrbar zu machen.

So liegen Verunellis 2018 uraufgeführtem Orchesterstück Tune and Retune frühe Erinnerungen an Konzerterlebnisse und der Eindruck des Orchesters als eines atmenden, sich in der Zeit entfaltenden Körpers zugrunde. In Five Songs (Kafka’s Sirens) hingegen ist es die Frage, was an Gesanglichem und an vokalem Ausdruck bleibt, wenn keine Person singt, die im Hintergrund der Komposition steht. Die Allusion an Franz Kafkas Erzählung vom Schweigen der Sirenen weist dabei in die Richtung, die die Musik aus eigener Kraft (und nicht aus Gründen der Textillustration) einschlägt: Die paradoxe Perspektive eines stummen, gleichwohl beredten Gesangs wird von Francesca Verunelli in einer Folge von fünf Abschnitten ausgeleuchtet, die wie Momentaufnahmen einer sich nie verfestigenden Gesamtform erscheinen und so ständig zwischen Erinnerung und Erwartung oszillieren. Und wenn im ersten Abschnitt, Clockworks and Arias überschrieben, das Saxophon doch noch mit der Expressivität des beinahe Stummen zu singen anhebt, dann überrascht es uns Hörer nicht nur durch die Artikuliertheit seiner Stimme, sondern auch durch die leise Erinnerung an das überkommene Formmodell von „Szene und Arie“. Nur dass eben nicht eine Szene der Saxophon-Arie vorausgeht, sondern, als Gegenbild zum expressiven Gesang, ein Satz, der die Präzisionsabläufe von Uhrwerken und ihre etwaige Störung imaginiert.

Das Spiel mit quasi-mechanischen Verläufen – zumal solchen, die durch eine Unwucht gestört werden oder gar kollabieren – findet sich auch in anderen Werken Francesca Verunellis. In Cinemaolio (2014) für Flöte, Klarinette, Klavier und Streichtrio ist es die musikalische Vorstellung eines alles andere als rund laufenden Filmprojektors, die weite Teile des Stücks dominiert (und der sich auch der Titel verdankt). Hier und an anderen Stellen ihres Œuvres dienen solche Texturen freilich nicht der Illustration; bei all ihrer Bildhaftigkeit stehen sie für nichts anderes als für sich selbst und ihre je spezifische Artikulation von Zeit. Denn darum geht es der Komponistin: Komponieren bedeutet für sie das Entwerfen, Kombinieren, Kreuzen und Konfrontieren unterschiedlicher Zeitlichkeiten im Medium der Musik. Und weil für sie schon jeder einzelne Klang aufgrund seines Ein- und Ausschwingvorgangs eine individuelle Temporalität aufweist, erscheint die Arbeit Francesca Verunellis auf der Ebene des Details wie auf der des Gesamtverlaufs als gleichermaßen fantasievolles wie konsequentes Gestalten von Zeit.

Ins Extrem getrieben findet sich solch ein Ansatz in dem Stück Ultimi Fiori für Violoncello solo (2017). Eine nahezu unendlich langsam sich bewegende Zweistimmigkeit instabiler Partialtöne zwingt hier das Ohr in eine Mikroperspektive, in der es sodann reichste, differenzierteste Melodik entdecken kann. Das ist, gerade in der Sparsamkeit der aufgewendeten Mittel, atemberaubend. Aber auch die größer besetzten Werke Francesca Verunellis bieten solche Momente hingerissenen Hörens. Ihre Musik zieht in den Bann und appelliert dabei stets an den wachen Nachvollzug im Moment ihres Erklingens.

 

Markus Böggemann