Naturlaut 3.0

von Markus Böggemann

In Samir Amarouchs Ensemblestück Analogies für sechzehn Musiker (2017) gibt es eine Passage, in der das Horn und das Fagott mit einer Folge kurzer Glissandi hervortreten. Fünfundzwanzig Sekunden nur, in denen kleine instrumentale Gesten, dicht ineinander verzahnt und doch klar unterscheidbar, aufhorchen lassen. Plötzlich scheint die Musik über sich hinauszuweisen und vage an Tierstimmen zu erinnern, die wie durch ein Fenster in die flirrende Statik des umgebenden Satzabschnitts hineinklingen. „Wie ein Naturlaut“ heißt es an vergleichbaren Stellen bei Gustav Mahler – nur dass hier nicht nur Vogelrufe oder Herdenglocken bemüht werden, sondern auch Wolfsgeheul. Es ist bezeichnend für die Neugier und Konsequenz des 1991 geborenen Komponisten, dass er diese Erfahrung prompt zum Ausgangspunkt weiterer künstlerischer Arbeit machte. Als Ergebnis entstand 2018 Area für Bläserquintett und Orchester, formal eine Art Concerto grosso, tatsächlich aber eine komplex auskomponierte Interaktion des Solistenensembles mit einem aufgebrochenen und im Raum verteilten Orchester. Wie ein Wolfsrudel, so Amarouch, umkreisen die Instrumentengruppen das solistische Quintett, um mit ihm und miteinander über die Entfernung hinweg zu kommunizieren. Als Ausgangsmaterial dienten ihm dabei Aufnahmen von Wolfsrufen (er selbst spricht mit Recht von Gesängen), deren Gestalt und akustische Eigenschaften er in seine kompositorische Grammatik integrierte.

Die Musik Samir Amarouchs hat demnach mimetische Qualitäten, aber sie ist alles andere als naiv. An keiner Stelle geht es ihr um bloße Tonmalerei oder die Nachahmung von etwas, das es schon gibt. Vielmehr zieht sie ihre Inspiration und ihr Material gerade aus den Unzulänglichkeiten einer digitalen Imitation von Natur. Wo diese scheitert oder ihr Vorbild unvermeidbar verzerrt, wird es für Samir Amarouch interessant. Damit geht er auch über die Idee der Klangsynthese, der biomorphen Nachbildung natürlicher Prozesse, einen entscheidenden Schritt hinaus. Appel (2017) für zweimanualiges Cembalo und Elektronik kann dafür als ein Beispiel dienen: Sein Ausgangsmaterial sind Vogelstimmen, deren Aufnahmen mithilfe eines Computers bearbeitet und transkribiert wurden. Die Struktur des Stücks und seine Dramaturgie – letztere entspricht einer zunehmenden Verdichtung der Ereignisse bei gleichzeitigem Abschleifen ihrer melodischen Kontur – leiten sich hingegen von der Streuung der rhythmischen und melodischen Varianten im Gesang der Vögel ab, die aus der Perspektive der Maschine als Verunklarung eines Idealtypus gelten muss.

Samir Amarouchs Faszination für die Schwellen zwischen virtueller und realer Natur bestimmt auch das eingangs erwähnte Ensemblewerk Analogies für sechzehn Musiker. Wie in Appel, aber noch radikaler im Zugriff, erscheint „Natur“ – in Gestalt von Zikadenklängen, Vogelstimmen oder Atemgeräuschen – hier als die akustische, auf alle (live-)elektronische Unterstützung verzichtende Imitation ihres digitalen Abbilds. Solch eine mehrfache Virtualisierung ließe sich (generationenspezifisch) als demonstrativer Antiessentialismus deuten, als Abweisung der Frage nach einem „Ursprung“ oder „Urbild“ und, im übertragenen Sinn, nach vermeintlich natürlichen Grundlagen der Musik. Darüber hinaus hat dieser Ansatz schließlich auch Konsequenzen für unsere Wahrnehmung: Die komponierten Klangobjekte oszillieren zwischen autonomer Erfindung und zeichenhafter Repräsentation, zwischen musikalisch-struktureller Funktion und metaphorischer Bedeutung. Und es ist nicht zuletzt dieses Flüchtige, Changierende, das die Faszinationskraft der Musik von Samir Amarouch ausmacht.