Ein Zeichen. Laudatio auf Christoph Eschenbach

von Peter Ruzicka

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Mit der Verleihung des Ernst von Siemens Musikpreises an Christoph Eschenbach setzt die Stiftung ein Zeichen: kein Ausrufezeichen, sondern etwas Stilles und Nachdenkliches, wie es dem Charakter des Preisträgers entspricht. Wir möchten einen Denkanstoß geben, was wirklich zählt in der Musik und im Leben, ob wir uns auf einer Traumstraße bewegen – oder eher auf einem Holzweg. 

Die Existenz eines Musikers kann in vollkommen entgegengesetzte Richtungen ausgreifen, ohne dass von vornherein feststünde, welche der beiden die wahre oder die falsche sei. Ein Musiker kann den höchsten Grad der Professionalisierung anstreben, das reine Spezialistentum: die Konzentration auf ein Instrument, ein eng umrissenes Repertoire, die „historische Informiert­heit“, am Ende gar auf nur einen Komponisten.

Diesen Weg in die vornehme Isolation hätte Christoph Eschenbach durchaus beschreiten können, nachdem er 1962 hier in München den ARD-Musikwettbewerb und drei Jahre später in der Schweiz den nicht minder renommierten Concours Clara Haskil gewonnen hatte. Dann wäre er heute „der Mozart-Pianist“ oder „Der Schumann-Pianist“, ein hochspezialisierter, mit seinem Klavierspiel auf wenige Notenbände eingeschworener Interpret: „der Schumann-Experte“, der gerade zum fünften Mal die Kinderszenen eingespielt hat, woraufhin die Kritiker feststellen, dass er diesmal für die Träumerei zwei Sekunden mehr braucht als bei der vierten Einspielung.

Die Entscheidung zur musikalischen Spezialisierung, zur bewussten Beschränkung, spiegelt gewiss eine allbekannte gesellschaftliche Entwicklung und Logik, und womöglich ist die Welt auch im Mikrokosmos einer strikt abgegrenzten Klavierliteratur zu ergründen. Andererseits erinnert eine solche Verkapselung und Monothematik auch an den alten, intelligenten Kalauer, den Sie sicher alle kennen: Ein Experte ist ein Mensch, der immer mehr über immer weniger weiß, bis er schließlich alles über nichts weiß.

Auf eben diesen paradoxen Triumph der Erkenntnis hat Christoph Eschenbach frühzeitig verzichtet: Er wollte sein Leben nicht mit dem Rücken zum Horizont verbringen. Schon als Student entschied er sich für den anderen Weg, die Gegenrichtung der Spezialisierung – er wählte den offenen Ausgang. Eschenbach studierte nicht allein das Klavier, sondern auch die Geige (wenngleich nicht mit solistischer Ambition, wohl aber als Vorschule der Orchesterkultur), und er erlernte das unerlernbare Handwerk des Dirigenten. Christoph Eschenbach erschloss sich damit von Anfang an eine doppelte bis dreifache Perspektive auf das Musikleben – Vielfalt statt Einseitigkeit. Gleichwohl begann für ihn mit den schon erwähnten Wettbewerbserfolgen zu­nächst die klassische Solistenkarriere, mit Soloaufnahmen bei der damals maßgeblichen Deutschen Grammophon und in Konzerten und Produktionen mit den Berliner Philharmonikern unter Herbert von Karajan. Allerdings ließ sich Eschenbach nicht, bei aller frühen und allseits gerühmten Meisterschaft, auf den Kanon der namhaften Werke oder die „Greatest Hits“ der Klassikbranche festnageln. Er brachte – zum Beispiel – im sagenumwobenen Jahr 1968 Hans Werner Henzes Zweites Klavierkonzert zur Uraufführung. Christoph Eschenbach spielte das Konzert mit einer schier unglaublichen pianistischen Identifikation, die ans Magische grenzte, und er spielte es über Jahre hinweg, unbeirrt von allen Widerständen, die es damals gegen die dezidierte politische Ausrichtung des Komponisten gab.

Mit diesem Werk, Henzes Zweitem Klavierkonzert, habe ich Christoph Eschenbach zum allerersten Mal gehört, vor bald fünfzig Jahren, und ihn damals und deshalb auch in Hamburg aufgesucht. Unsere Freundschaft währt nun also fast ein halbes Jahrhundert – ich möchte dies wenigstens einmal und ausdrücklich sagen dürfen, weil es sich im Jubel und Trubel des internationalen Konzertbetriebs keineswegs von selbst versteht und Freundschaften allzu oft unter den Ansprüchen unseres Berufs zu leiden haben. Umso mehr berührt es mich (und beruhigt es mich), mit einem Freund und Kollegen so viele gemeinsame Erinnerungen teilen zu dürfen. 

Christoph Eschenbach befand sich in den 1960er Jahren, als ich ihm erstmals begegnete, längst in der Umlaufbahn einer erfolgreichen Solistenkarriere, doch er selbst empfand diese Zeit nicht als glamourös, er litt vielmehr unter der Einsamkeit des Klavierspielers: allein zu sein mit einem Werk, im niemals endenden Selbstgespräch mit und ohne Publikum, gefangen in der Rolle des „Alleinunterhalters“, wie er selbst es nannte. Auch das Leben als ewige Tournee durch keineswegs nur die gediegensten Hotels und besten Konzertsäle widerstrebte ihm bald, wenngleich er es verstand, die Not in eine Tugend umzuwidmen und die ständige Reiserei als intellektuelles Abenteuer wahrzunehmen: als lohnende Entdeckung fremder Länder, neuer Städte, unbekannter Museen, ungewohnter Mentalitäten. Christoph Eschenbach spricht von seiner „Lebensbildungsreise“.

Dennoch wurde ihm das Musikerdasein im inneren Zirkel der Pianistenprominenz alsbald zu eng. Mit Anfang dreißig begann Christoph Eschenbach seine „zweite Karriere“ als Dirigent, und obgleich er am Klavier zu den weltweit führenden Künstlern zählte, scheute er sich nicht, in seinem neuen Beruf den langen Weg anzutreten: die Galeerenjahre eines Kapellmeisters von bewundernswerter Lernfähigkeit und Neugierde. George Szell in Cleveland und Herbert von Karajan in Berlin waren seine Mentoren, die ihm mit Rat und Tat, Einladungen zu Proben, dem gemeinsamen Musizieren und grundlegenden Gesprächen zur Seite standen. Von Szell konnte er die Rhetorik des Musizierens erlernen, die Formulierung musikalischer Phrasen, die „Klangrede“ in der Tradition des 18. Jahrhunderts, während Karajan ihm die Kunst der Übergänge, des harmonischen Raffinements, der „Klangfarben“ im Sinne der frühen Moderne nahebrachte.

Christoph Eschenbach avancierte bald selbst zum „Chef“ und sollte in den folgenden Jahren, bis in die Gegenwart, bedeutende Orchester der Alten wie der Neuen Welt leiten: in Europa das Tonhalle-Orchester Zürich, das NDR Sinfonieorchester Hamburg und das Orchestre de Paris, das er nicht zuletzt durch sein vehementes Engagement für einen neuen Konzertsaal unterstützte – und dieser Konzertsaal wurde mittlerweile sogar gebaut und eröffnet! Gleichzeitig und im Wechsel mit diesen drei europäischen Orchestern leitete Eschenbach in den Vereinigten Staaten das Houston Symphony Orchestra, das er in arger Schieflage künstlerischer wie finanzieller Art antraf und mit langem Atem und in noch längeren Sponsorendiners zu wirtschaftlicher Solidität und neuer musikalischer Schlagkraft führte. Später stand Christoph Eschenbach an der Spitze des legendären Philadelphia Orchestra, als Nachfolger von Ormandy, Muti und Sawallisch; und schließlich wurde er zum Music Director des National Symphony Orchestra in Washington ernannt. Christoph Eschenbach hat die Identität und Eigenart seiner amerikanischen Orchester bewahrt und sie dennoch zu einem charakteristischen europäischen Klang gelenkt, namentlich in den Streichern, die bei aller technischen Perfektion unter seiner Leitung stets ungewöhnlich warm im Timbre und atmend in der Phrasierung zu spielen wissen. Ohnehin habe ich immer bewundert, dass es ihm gelungen war, die erworbenen pianistischen Tugenden im Metier des Dirigierens weiterzudenken, allen voran die Tugend des kantablen Spiels, des Singens auf dem Klavier. „Der Gesang als menschlicher Ausdruck ist der musikalisch direkteste“, hat Christoph Eschenbach gesagt, und wir wollen nicht vergessen, dass er sich als Pianist auch ein geradezu enzyklopädisches Repertoire der Liedliteratur erarbeitet hat und mit Sängerpersönlichkeiten wie Dietrich Fischer-Dieskau, Peter Schreier, Renée Fleming oder Matthias Goerne aufgetreten ist – in tief beeindruckenden Liederabenden, auch hier in München.

Die Musik lebt, wie alles Menschenfreundliche, vom Weitersagen, vom Teilen und Mitteilen. Die Zuwendung, das Vertrauen, die Ermutigung, die Christoph Eschenbach in jungen Jahren von seinen Förderern empfing, gibt er selbst weiter an hochbegabte Musiker, die er mit Unterricht, Empfehlungen, gemeinsamen Konzerten unterstützt – nicht nur „entdeckt“, sondern über viele Jahre begleitet, freundschaftlich und mit großer Empathie. Zu ihnen gehört die schon genannte Sopranistin Renée Fleming, mit der Eschenbach insbesondere die Vokalpreziosen von Richard Strauss musizierte; außer ihr die Geigerin Julia Fischer, die Pianisten Tzimon Barto und Lang Lang (der selbst als „Weltstar“ noch immer die Unterweisungen seines Mentors sucht) oder die Cellisten Claudio Bohórquez und Daniel Müller-Schott. Eschenbachs Lebensmaxime, dass man nie ausgelernt habe, beflügelt ihn wie selbstverständlich zu einem offenen, unerschöpflichen Gedankenaustausch mit jüngeren Musikerkollegen. Und es ist auch seine Art, sich für das Glück zu bedanken, das ihm selbst widerfahren war.

Ein Freund und Förderer aber ist Christoph Eschenbach auch für die Komponisten: für uns Komponisten. Eschenbach hat sich seit jeher für die Neue Musik maßgeblich eingesetzt, etwa bei Uraufführungen von Wolfgang Rihm, Aribert Reimann, Matthias Pintscher, Marc-André Dalbavie und Pascal Dusapin. Er bereitet die neuen Partituren mit ebenso großer Sorgfalt vor wie musikalische Texte der Tradition. Wer einmal die von ihm eingerichteten Dirigierpartituren mit unzähligen Einzeichnungen gesehen hat, weiß um die Verantwortlichkeit des Interpreten, der nach einer genauen Analyse der neuen Komposition die Bedeutung und Funktion der einzelnen musikalischen Gestalt im Werkganzen zu erkennen hat und dies dirigentisch umsetzen muss. Unvergesslich vor allem bleibt mir ein Konzert, das er zur Jahrtausendwende in Hamburg dirigierte, als er unter dem Titel Sieben Horizonte sieben neue Auftragswerke von sieben Komponisten zur Uraufführung brachte, an einem Abend, der erst weit nach Mitternacht zu Ende ging.

Ich habe es am Anfang gesagt und sage es gerne noch einmal zum Ende meiner Lobrede: Die Ernst von Siemens Musikstiftung will mit dieser Preisvergabe ein Zeichen setzen. In unserer Absicht liegt es auch, auf ein ungewöhnliches und ergreifendes Schicksal hinzuweisen. Denn mit Christoph Eschenbach zeichnen wir einen einstigen Flüchtling aus. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam der in Breslau Geborene als Waisenkind in ein Flüchtlingslager, das von einem Typhus­ausbruch heimgesucht wurde – und das er als einziger überlebte. Er war nach diesen traumatischen Erlebnissen völlig verstummt, als ihn seine Adoptivmutter in ihre Obhut nahm. Erst ihr Gesang, die Musik, sollte ihn langsam wieder ins Leben zurückholen. Ich muss nicht erklären, dass ein solches Schicksal niemals „bewältigt“ werden kann und dass es zwangsläufig eine besondere politische Sensibilität wachruft. Und ich muss wohl kaum begründen, wie aktuell diese Lebensgeschichte erscheint im Licht der jüngsten grauenhaften Ereignisse, die uns schockierend vor Augen führen, dass auch siebzig Jahre nach Kriegsende die Kriege nicht zu Ende sind. Das Leben des Pianisten, Dirigenten, Pädagogen, Inspirators und Mentors Christoph Eschenbach setzt ein Zeichen, ein Hoffnungszeichen, und spricht zugleich eine stille, eindringliche Mahnung aus, dass sich hinter jedem der anonymen Schicksale, die in den Flüchtlingsstatistiken verschwinden, ein Versprechen auf die Zukunft verbirgt und dass es unsere Aufgabe ist, unsere Schuldigkeit sogar, diese Zukunft zu verteidigen, mit jedem Menschen, den die Not und der Lebenswille auf eine weite, gefährliche Reise mit offenem Ausgang getrieben haben. Und so ist der 75-jährige Preisträger ein Zeuge und ein Bürge der Zukunft, die in unser aller Hände liegt. Und in unserer Verantwortung.