Hören, Sehen, Übersetzen

Für Beat Furrer

Thomas Macho

 

Sehr verehrte Damen und Herren, tief bewunderter Preisträger!

Lassen Sie mich mit einer Frage beginnen. Wie arbeiten Komponisten? Worin besteht ihre Tätigkeit? Eine mögliche Antwort: Sie hören, verwandeln das Gehörte in ein Sichtbares, eine Schrift, eine Partitur, eine visuelle Gestalt, um erneutes Hören zu ermöglichen. Sie bewegen sich, ja, sie schwingen zwischen Hören und Sehen, wie Übersetzer zwischen den Sprachen. Manchmal beginnt es im Sichtbaren, mit der Imagination einer Struktur wie in einigen Werken Bachs, deren zahlensymbolisch inspirierte Form nicht gehört, sondern – in Vergleich und aufmerksamer Betrachtung – allenfalls gesehen werden kann; denken wir an die Kraft der Bilder Roman Haubenstock-Ramatis, die mit ihrer Einordnung in die Geschichte graphischer Notationen nur unzureichend charakterisiert werden können.

Im Alter von 21 Jahren übersiedelt Beat Furrer von Schaffhausen nach Wien, um Komposition bei Haubenstock-Ramati zu studieren. In Furrers Werk beginnt alles mit dem Hören, mit dem Verwandeln von Klängen, im Übergang zu Geräuschen oder zu Worten; nicht umsonst hat Daniel Ender seine Analyse des kom­positorischen Werks unter dem Titel Metamorphosen des Klanges 2014 bei Bärenreiter publiziert. Furrer ist ein Hörender, ein »Klangforscher« im besten Sinn des Wortes, mitunter an den Grenzen des Hörbaren. Im März 1985 hat er, zehn Jahre nach seiner Ankunft in Österreich, das Klangforum Wien – ursprünglich als Société de l’Art Acoustique – gegründet; ab 1991 fungierte er gemeinsam mit Roman Haubenstock-Ramati als Präsident des Klangforums, das von 1992 bis 1999 von Peter Oswald geleitet wurde, der am 3. August des vergan­genen Jahres unerwartet und früh gestorben ist.

Eine Apologie des Hörens: Beat Furrers Vokalwerk Fama, komponiert in acht Szenen für großes Ensemble, acht Stimmen und eine Schauspielerin, uraufgeführt am 14. Oktober 2005 in Donaueschingen, 2006 ausgezeichnet mit dem Gol­denen Löwen auf dem 50. Internationalen Festival für Neue Musik der Biennale di Venezia, beginnt mit einigen Zeilen aus dem sechsten Buch von De rerum natura, jener umfangreichen Darstellung der antiken Atomlehre, die im ersten vorchristlichen Jahrhundert von Titus Lucretius Carus verfasst wurde.[1] In diesen Zeilen wird der Vulkan Ätna geradezu als Musikinstrument beschrieben, mit Luft und Gasen in seinen Höhlen, die einen feurigen Aufruhr erzeugen, den wir in Chorgesang und Orchesterklang vernehmen, ohne die lateinischen Worte verstehen zu müssen. Die Sprache verschmilzt mit der musikalischen Lava: „ich höre das Feuer … ich höre den Regen … ich höre das Zerreißen des Himmels … ich höre das Schreien der Kinder … ich höre die Asche … ich höre in meiner Erin­nerung … ich höre das Schweigen … ich höre das Flüstern der Blätter … ich höre deinen Atem … ich höre das Rauschen des Flusses … ich höre die Stimme des Alten … ich höre das Dunkel … ich höre das Lachen … ich höre das Stöhnen … ich höre das Schreien der Tiere … ich höre das Rasseln der Skorpione … ich höre deinen Gruß zum Abschied … ich höre das Donnern … ich höre den Gesang auf der anderen Seite des Flusses … ich höre das Knacken der Äste … ich höre die Glocken … ich höre den Rhythmus der Jahreszeiten … ich höre deine Stimme … ich höre …“

Wer hört? Und wer ist Fama? „So viele Federn sie am Körper trägt“, schreibt Vergil im vierten Buch der Aeneis, „so viele wachsame Augen hat sie darunter – es klingt wie ein Wunder –, so viele Zungen auch und ebenso viele Münder sind zu hören, so viele Ohren spitzt sie“:[2] eine doppeldeutige Göttin, ein strahlendes Scheusal, die bona fama des Ruhms, die mala fama des üblen Gerüchts. Im Mittelpunkt der Fama Beat Furrers steht freilich keine antike Dämonin oder Göttin, sondern eine junge Frau im Selbstgespräch – Arthur Schnitzlers Fräulein Else von 1924. In abgehackt skandierten Sätzen, im Dialog mit sich selbst und zugleich mit der Musik, wird Else von der Forderung bewegt, sich nackt zu zeigen, um die Schulden ihres Vaters begleichen zu können, förmlich zerrissen zwischen Lust und töchterlicher Pflicht, Freiheitswunsch und Todessehnsucht, bis zum unvermeidlichen Veronal. Was wir in der sechsten Szene von Fama hö­ren, ist ein visuelles Drama der Spiegelung: „Wie hübsch ist es, so nackt im Zimmer auf und ab zu spazieren. Bin ich wirklich so schön wie im Spiegel? Ach kommen Sie doch näher, schönes Fräulein. Ich will Ihre blutroten Lippen küssen. Ich will Ihre Brüste pressen. Wie schade, dass das Glas zwischen uns ist. Wie gut würden wir uns miteinander vertragen. Wir brauchten gar niemanden andern. Es gibt vielleicht gar keine Menschen.“[3] Elses innerer Monolog dreht sich vom Sehen und Gesehenwerden im Spiegel wieder zum Hörbaren, mit dem die sechste Szene von Fama endet: „Wer spielt denn da unten so schön Klavier?“[4] Was da gespielt wird, hat Schnitzler in Notenschrift zitiert: mehrere Takte aus Schumanns Carnaval, opus 9,[5] deren Motive Schumann selbst wiederum aus Worten gewonnen hatte, etwa das A-Es-C-H oder As-C-H, das den Geburtsort Asch seiner ehemaligen Verlobten Ernestine von Fricken bezeichnen sollte.

Beat Furrer, seit Herbst 1991 Professor für Komposition an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Graz, hat ein umfangreiches Œuvre geschaffen, das Solo- und Kammermusik, Werke für Ensemble, Chor und Orchester, sowie sieben Opern umfasst; gegenwärtig schreibt er seine achte Oper – Violetter Schnee – die am 13. Januar 2019 in Berlin uraufgeführt werden soll. Die erste Oper Die Blinden, ein einaktiges Kammerstück nach Texten von Maurice Mae­terlinck, Platon, Hölderlin und Rimbaud, wurde am 25. November 1989 (kurz nach dem Fall der Berliner Mauer) in Wien uraufgeführt, die zweite Oper Narcissus – nach Ovids Metamorphosen – am 1. Oktober 1994 in Graz. Beide Stoffe kreisen um das Verhältnis zwischen Hören und Sehen: die Lage der Blinden, die auf einer verlassenen Insel auf ihren Anführer warten, als Sprechrollen angelegt, die mythischen Erzählungen Ovids von Narcissus, der sich bekanntlich in sein Spiegelbild verliebt, und von Echo, der die Gabe des Erzählens genommen wird, und die schließlich in einer Höhle die Nahrung so lange verweigert, bis sie sich in reine Stimme verwandelt hat.

Auch die dritte Oper Begehren, nach Texten von Cesare Pavese, Günter Eich, Hermann Broch, Ovid und Vergil, konzertant uraufgeführt am 5. Oktober 2001 in Graz (kurz nach dem Fall der Zwillingstürme in New York), verhandelt in zehn Szenen dieses Thema: den Widerstreit zwischen Hören und Sehen, der machtvollen Musik des thrakischen Sängers Orpheus, die selbst den Tod zu besiegen vermag, und der Verführung zum Blick über die Schulter, die Eurydike erneut dem Tod ausliefert. Schon zu Beginn der dritten Szene scheint Orpheus zu resignieren, als er, mit einem Zitat aus Cesare Paveses Dialoghi con Leucò (1947), bekennt: »Ich suchte / als ich klagte / mich selbst / ich hörte mir zu / nichts als mich selbst«. Auch Orpheus scheitert also wie Narcissus, dem der blinde Seher Teiresias einst prophezeit hatte, er werde nur dann ein langes Leben genießen, wenn er sich selbst nicht erkenne, wenn er sich selbst fremd bleibe. Erst in der siebenten Szene wird die Verschwundene – halb Eurydike, halb Echo – den Sänger trösten, nun mit den Worten Günter Eichs (aus dessen Hörspiel Geh nicht nach El Kuwehd von 1950): »Hörst Du? / Ich kann zu Dir / Sprechen als / wärst du hier«. Nur wer hören kann, überwindet die Trennung.

Bemerkenswert ist, wie Beat Furrer die Texte zu seinen Opern mit den instrumentalen Klängen und Stimmen verbindet: als ob die Texte selbst schon Musik wären. „Grundsätzlich versuche ich, den gesprochenen Text mit dem Instrumentalklang zu verschmelzen“, erläutert Furrer im Gespräch mit Daniel Ender: „Es ist für mich wesentlich, die gesprochenen Klänge ins instrumentale Gefüge zu integrieren und im Instrumentarium Bewegungen und Klanglichkeiten wei­terzuführen, die in der gesprochenen Sprache schon da sind. [...] In der ersten Szene von Begehren ist das Wort ›Schatten‹ der Anfangsklang, aus dem sich eigentlich der Gesamtklang entwickelt“. Sind nicht auch Texte und Schriften bloß Schatten der Stimme, des Klanges und der Musik? Signifikant für Furrers Opern ist die Sorgfalt, mit der die Libretti erstellt werden: oft nur aus kurzen Passagen, die ihrerseits neu montiert werden, häufig in der Originalsprache, sei es nun Altgriechisch, Latein, Italienisch, Spanisch oder Französisch. „Es ist ja meistens so, dass ich schon Klänge habe und noch Text suche“, hat Beat Furrer im Gespräch mit Peter Hagmann (für die Neue Zürcher Zeitung vom 5. Juli 2003, anlässlich der Uraufführung der Oper Invocation im Rahmen der Zürcher Festspiele) versichert. Invocation, Anrufung, verwendet Fragmente aus der Erzäh­lung Moderato Cantabile (1958) von Marguerite Duras, übersetzt von Ilma Rakusa, Zitate von Ovid und Pavese.

Die Arbeit am Text folgt der musikalischen Imagination, auch in Furrers neueren Werken für Musiktheater: Das Wüstenbuch, uraufgeführt am 15. März 2010 in Basel, zu Texten von Händl Klaus, aus Ingeborg Bachmanns Todesarten, von Antonio Machado und Lukrez, sowie zu einem Abschnitt aus dem altägyptischen Gespräch eines Lebensmüden mit seiner Seele, übersetzt von Jan Ass­mann aus einem Papyrus, der um 1900 v. Chr. aufgezeichnet wurde,[6] oder La bianca notte, uraufgeführt am 10. Mai 2015 in Hamburg, zu Fragmenten aus den Canti Orfici (1914) von Dino Campana. Furrers Dramaturgie, so betont auch Peter Oswald in seinem Essay Chiffrierte Botschaften des Lebens, ist niemals narrativ. Sie verweigert sich gleichsam dem Strick der Handlung, der den Klang stets zur Begleitung, zur affektiven Illustration, herabsetzt. So sind wir es inzwischen gewöhnt, in Filmen oder TV-Serien, wo die Musik, wie Christian Petzold einmal gesagt hat, „die Gefühle anschaffen“ soll. Nicht umsonst haben manche Filmregisseure – wie Robert Bresson oder Tarkowski, dem Beat Furrer 1991 Face de la chaleur zugeeignet hat – diesen alltäglich gewordenen Missbrauch der Klänge abgelehnt. In seinen Notes sur le cinématographe bemerkt Bresson: „Keine Musik zur Begleitung, zur Unterstützung oder zur Verstärkung. Überhaupt keine Musik. Die Geräusche müssen Musik werden. [...] Sei sicher, alles ausgeschöpft zu haben, was sich durch Unbeweglichkeit und Stille mitteilt.“[7] Die Grenzzonen der Klänge – im Übergang zum Geräusch, im Übergang zur Stille – hat auch Beat Furrer intensiv erkundet.

Hören, Sehen, Übersetzen. Ich komme zum Ende dieser kurzen Rede, und noch habe ich von der Musik Beat Furrers viel zu wenig gesprochen. Aber wie soll ein Text auch an die Musik heranreichen? Im Briefwechsel zwischen Theodor W. Adorno und Alban Berg finden sich Passagen, in denen Adorno nahezu beklagt, nicht so schreiben zu können wie Berg komponiert. Eine Übersetzung will nicht gelingen; sie mündet oft genug in Fachbegriffe, die kein Hören evozieren. Vielleicht hat Schnitzler darum einfach die Notenzeilen zitiert, als wollte er seine Leserschaft auffordern, sich flugs ans Klavier zu setzen, um wenigstens erahnen zu können, was die unglückliche Else hört? Doch heute werden wir hören. Und mir bleibt nur der Dank für Ihre Aufmerksamkeit und eine herzliche, tief empfundene Gratulation an den Preisträger.

 

 

[1]  Vgl. Titus Lucretius Carus: De rerum natura  Welt aus Atomen. Lateinisch/Deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Karl Büchner. Stuttgart: Reclam 1973. S. 512 und 510.

[2]  Publius Vergilius Maro: Aeneis. Lateinisch/Deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Edith und Gerhard Binder. Stutt­gart: Reclam 2012. S. 185.

[3]  Arthur Schnitzler: Fräulein Else. Novelle. Herausgegeben von Johannes Pankau. Stuttgart: Reclam 2002. S. 60.

[4]  Ebd. S. 62.

[5]  Ebd. S. 68 und 70.

[6]  Vgl. Jan Assmann: Tod und Jenseits im Alten Ägypten. München: C. H. Beck 2001. S. 498 f.

[7]  Robert Bresson: Notizen zum Kinematographen. Übersetzt von Andrea Spingler und Robert Fischer. Berlin: Alexander Ver­lag 2007. S. 29.