Res severa verum gaudium

Über das Verhältnis von musikalischer Praxis und Theorie

Ich danke – mit ebenso viel Freude wie Betroffenheit. Die Betroffenheit hat im Blick auf meine Vorgänger mit dem zu tun, was Philologen „Einschüchterung durch Klassizität“ nennen. Damit freilich darf ich nicht hausieren gehen – ich wäre koketter Bescheidenheit verdächtig, und es liefe auf Zweifel an der Urteilsfähigkeit des Kuratoriums hinaus.
Preise kann man nicht verdienen, sie sind immer auch Zufälle. Der Delinquent tut gut daran, sie im Blick auf die Sache, die er vertritt, als Leihgabe zu betrachten. Der diesjährige Preis gilt wohl zweierlei: der Musikwissenschaft, um deren Publizität es im Vergleich zu anderen mit Kunst befassten Wissenschaften nicht gut steht, und dem Spagat zwischen musikalischer Praxis und Theorie.
Mit diesem, dem Sitzen auf oder zwischen zwei Stühlen bin ich so oft in Verbindung gebracht worden, dass mir nichts anderes übrigbleibt, als hiervon zu reden. Dabei geht mir schon die pauschale Trennung schwer über die Lippen, weil ich immer neu entdecke, wieviel wechselseitige Osmose stattfindet, wie sehr beide einander brauchen. „So geht es dir, Zergliedrer deiner Freuden“ – diese Erfahrung habe ich nicht gemacht, Pascals „pour comprendre il faut aimer“ steht mir näher, auch die Umkehrung: dass man, um zu lieben, erkennen sollte, wenngleich Liebe auch ein Vor-Vertrauen in Nichterkennbares einschließt. 
Zur bissigen Dialektik zwischen musikalischer Praxis und Theorie gehört freilich auch, dass beide hiervon oft nichts wissen wollen. „Musicorum et cantorum magna est distantia: / Isti dicunt, ille sciunt, quae componit musica. / Nam qui facit, quod non sapit, diffinitur bestia“ – so reimte Guido von Arezzo, einer der Säulenheiligen der Musik des Mittelalters. Auch wenn wir abziehen, dass er am ehesten als pädagogischer Praktiker in Erinnerung geblieben ist, und Musik, wie er sie verstand, tatsächlich Wissenschaft war, klingt in unseren Ohren anmaßend, dass „der, der macht, ohne zu wissen, ein Vieh“ sein soll. So dass ich sofort eine Huldigung an das unbewusste Wissen, eine intuitive, gänzlich musikbezogene Intelligenz etlicher großer Musiker nachschieben muss, die im Normalsinn nicht sonderlich gebildet erscheinen.
Die atemberaubende Entwicklung der europäischen Mehrstimmigkeit wäre ohne jene Osmose ebenso wenig vorstellbar wie u.a. die Experimente, die zur Entstehung der Oper führten. Noch im Februar 1785, da Haydn gegenüber Vater Mozart seine Bewunderung des Sohnes formulierte, hat er von „Kompositionswissenschaft“ gesprochen – gegen Ende einer Zeit, da Praxis und Theorie freundlich zueinander standen: Die Autoren der klassischen Lehrschriften waren ebenso Komponisten und praktische Musiker wie Theoretiker.

Das freilich hat einen strukturell bedingten Antagonismus nicht beschwichtigen können – zwischen denen, die Musik machen, i.e. in ihr stehen, und denen, die über sie nachdenken und halb neben ihr stehen. Der Arroganz der Theorie antwortet eine Gegen-Arroganz der Praxis, die sich viel auf Musik als „aus dem Bauch“ kommend, als „Sprache des Gefühls“ zugutetut, und alles Nachdenken, Schreiben und Analysieren als Bemäntelung von Defiziten verdächtigt. „Musicus doctus“, hört man sich mit gemischten Gefühlen nennen.

Dass Hochgebildete wie Mendelssohn, Brahms oder Bartók sich auf ästhetisch-philosophische Aussagen kaum eingelassen haben, erscheint ebenso aufschlussreich wie, dass man allzu gesprächigen Musikern nicht traut. Musik ist allemal und für jeden eine andere; „was sie sagt“, so Mendelssohn, „ist nicht zu unbestimmt, um in Worte gefasst zu werden, sondern zu bestimmt“. Distanz zum Gerede spielt, oft unterschwellig, bei Bruckners stimmungsabhängigen Kommentierungen eigener Werke oder Schönbergs Allergie gegenüber Adorno ebenso mit wie bei Wagners Herablassung gegenüber verblasenen Huldigungen.

Musiker, Komponisten ausgenommen, sind vorab und radikaler als die Kollegen der anderen Künste Praktiker. Wohl verhelfen erst sie der Musik zu deren eigener, der klingenden Realität, sind jedoch auf eine Vorlage fixiert und müssen alles daransetzen, ihr gerecht zu werden. Virtuell ist die Musik schon da und verpflichtet sie, sich als Dolmetsch, als Instrument, im genauen Sinn als Ausführenden zu betrachten. Ohne tiefreichende Identifikation und, wenn sie nicht gelingt, ohne Leiden geht das nicht ab, zu sehr sind alle Wesenskräfte – Herz, Hirn und Physis – beteiligt. Deshalb sollte man mit der Schelte der sogenannten „Konservativität“ von Musikern vorsichtig sein; dem, was sie tun, sind sie auf eine Weise ausgesetzt, die sich von außen kaum nachvollziehen lässt.

Die Verpflichtung auf den Notentext legt dem kreativ-spontanen Musizieren zugleich Zügel an und inspiriert, öffnet freie Bahnen. Die Unterscheidung von schöpferischem und nachschöpferischem Tun behält ihr Recht, sie rumort hinter konträren Positionen wie derjenigen Strawinskys, der den Interpreten in der Rolle des Erfüllungsgehilfen sieht, welcher lediglich den Klöppel der Glocke des Werks schwingen soll, und Furtwänglers, der den klingenden Vollzug als Re-Komposition denkt. Gute Interpretation enthält von beidem etwas.

Das Misstrauen von Musikanten gegenüber denen, die eher mit geschriebenen Noten als mit dem umgehen, was da tönt und uns nicht aus den Klauen lässt, gründet in der Verpflichtung auf jene existentiell erlebte und vollzogene Vergegenwärtigung. Auch wenn Hochkompetente meinen, sie hörten die schönste Musik, wenn sie auf dem Sofa lägen und Partitur läsen, ist das pures wishful thinking. Nur Wenige sind imstande, gelesene Partituren konkret klingend vorzustellen, und selbst wenn es gelingt, bleibt zwischen virtuellem und realem Hören, von der taktilen, psycho-physischen Berührung abgesehen, immer noch der Unterschied, dass man bei diesem im klingenden Vollzug gefangen, ihm ausgesetzt ist und nicht, wie der Lesende, aussteigen, nicht zurückblättern kann.

Die schöne Gefangenschaft im Vollzug schreit nach der direkten Linie zwischen mir und der Musik, sie widersetzt sich jeder noch so klug zwischengeschalteten Relativierung, selbst historischen Bezügen. Das hilft u. a. zu verstehen, weshalb große Musiker früherer Generationen selten oder garnicht mit den Lehrschriften des 18. Jahrhunderts umgegangen sind. Karajan und Geminiani? – wohl kaum, und unnötig.

Es hilft zugleich, Langzeitwirkungen zu akzeptieren, die die Wissenschaft in Kauf nehmen muss. Ohne ihre Vorarbeiten wäre die historische Aufführungspraxis nicht vorstellbar, die später einmal neben Anforderungen zeitgenössischer Komponisten als wichtigste Prägung der musikalischen Interpretation unserer Tage gelten wird. Auf „Urtext“ als Werbeslogan verzichtet heute kaum ein Verlag; vor hundert Jahren, da die Wissenschaft schon viel vorgelegt hatte, war er ein mit akademischen Gerüchen behaftetes Schreckgespenst. Mittlerweile lädt der inflationäre Gebrauch zu fragen ein, wie „ur“ ein Notentext und Musik überhaupt sein können.

Osmose von Praxis und Theorie auch anderswo: Wie die Beschreibung von Musik und ihrer Wirkungen einerseits seit Augustinus über Dante, Madrigaltexte des 16. Jahrhunderts und Shakespeare bis hin zu frühen Romantikern, Nietzsche, Thomas Mann, Adorno usw. als besondere belletristische Herausforderung wahrgenommen wurde, so hat andererseits die Weise, in der man über Musik geschrieben hat, auf sie zurückgewirkt. Dies zu bestätigen bedarf es keiner positiven Belege, etwa dass Tieck, Wackenroder oder Jean Paul im Schubertkreis gelesen worden wären – derlei liegt „in der Luft“.

- „Musik von oben“ als hörbarer Vorposten der unhörbaren „musica mundana“, in Dantes Vision der neun um Gott als Lichtkreise versammelten Engelschöre befestigt und u. a. durch Beschreibungen der Domweihe in Florenz bestätigt – ist als solche sicherlich schon bei den Organa in Notre-Dame erlebt worden; die Entwicklungen der europäischen Mehrstimmigkeit erscheinen ohne den stimulierenden Hintergrund solcher Projektionen nicht vorstellbar.

- Musiker haben, wenige Ausnahmen nicht gerechnet, anderthalb Jahrhunderte gebraucht, um Petrarca als Inspirator einer immer feiner differenzierten Wortwahrnehmung zu entdecken; dann aber wurden sie zu seinen besten Multiplikatoren.

- Auch wenn wir das Privileg des historischen Rückblicks beiseitelassen, dürfen wir die prophetische Kompetenz frühromantischer Beschreibungen von Musik und ihrer Wirkungen dadurch belegt finden, dass wir sie eher mit Schubert, Chopin oder Schumann zusammendenken als mit Johann Gottfried Reichardt. Waren ihre Erwartungen auf die „falsche“ Musik fixiert, weil sie die gemäßere nicht kannten oder es sie noch nicht gab?

- Gleichgültig, wie sehr Schopenhauer verstanden oder missverstanden war – am „Tristan“ hat er teil.

- Debussy wäre schwerlich so rasch zu dem geworden, den wir kennen, hätte er nicht zu Füßen Mallarmés gesessen und die Ästhetik der „poésie pure“ eingesogen.

Musiker können also von Dichtern und Philosophen viel über sich und ihre Kunst erfahren, was sie anders nicht erfahren hätten.

Dazu bedurfte es des von außen herantretenden, seiner definitorischen Festlegungen wegen zu besonderer Schmiegsamkeit veranlassten Wortes, das die Musik nie direkt und ganz treffen, sie jedoch einkreisen, mit dem Nichttreffbaren Tuchfühlung herstellen kann. Bekanntlich ist der Erkenntnis einer Sache schon gedient, wenn man zu bestimmen vermag, was sie nicht ist. Je mehr die Reflexion sich den Herzkammern der Musik nähert, desto mehr entzieht sie sich der Nachprüfung und wird zur Vermutungswissenschaft. Der Rang der Beschreibungen bemisst sich auch nach der Sensibilität, mit der sie reflektierten, dass und auf welche Weise sie danebentreffen.

Dieser das „Was“ der Musik betreffenden Problematik steht die die Machart, das „Wie“ betreffende gegenüber. Jede relevante Behandlung ist dazu verurteilt, zwischen beidem und samt divergierenden Blickrichtungen und Terminologien zu vermitteln – hie Inhalt, da Technologie. Deshalb meinte Alfred Einstein, wer die jeweilige Musik kenne, brauche die Analyse nicht, und wer sie nicht kenne, dem nütze sie nicht. Daran hat er sich selbst nicht gehalten; mag wohl bemerkt haben, dass sich die sentenziöse Formulierung an Fragen vorbeimogelt wie, auf welche Weise Musik gekannt werde, ob nicht jedes, auch das naivste Erlebnis zugleich Erkenntnis enthalte, und ob man Kunstwerke je ganz kennen könne.

Freilich – wenn man in kompositorische Details hineinleuchtet, kommt man ohne Fachterminologie nicht aus und mutet dem Leser mindestens eine Übersetzung in ein anderes Medium zu – vom Wort in musikalische Vorstellungen, gegebenenfalls auf dem Umweg über Notenbeispiele. Musikalische Analysen zu schreiben und zu lesen ist selten ein Vergnügen. Eben deshalb kann die Musikwissenschaft mit der Publizität der anderen Kunstwissenschaften nicht mithalten.

Diese Beschwerlichkeit hat jedoch eine ganz andere Seite. Gibt es nicht Gründe, deretwegen wir es uns schwer machen sollten, haben wir uns nicht sehr bequem mit jederzeit leicht abrufbaren Kulturgütern eingerichtet, brauchen also lästige Kommentare, um über neue Zugänge neu zu erwerben, was wir zu besitzen meinen? Wie sehr haftet an jenen Gütern auch, dass sie zur Zeit ihrer Entstehung weniger verfügbar waren, dass man oft nicht wusste, wann diese Sinfonie, jenes Konzert wieder zu hören sein würden? Ersatzweise und nicht ohne Mühe machte man sie sich als Klaviertrio oder vierhändig am Klavier zueigen, immerhin selbst musizierend. Auch ließ die Probenarbeit früher zuallermeist, mehr Zeit, mit der Musik vertraut zu werden. Heute sieht die Planung z.B. für eine Mahler-Sinfonie oft kaum mehr als drei Proben vor, und sie wird technisch besser gespielt als vor 100 Jahren nach zehn Proben; indes – haben die Musiker genug Zeit, in die Musik hineinzufühlen, in ihr sich einzuleben, zuhause zu sein?

Damit frage ich in eine Richtung, in der Reflexion und Emotionales sich unscheidbar mischen, wir also kaum erfahren können, ob pragmatische Momente sich im Musizieren und unserer Wahrnehmung schon tiefer eingenistet haben, als uns bewusst ist, ob wir sie stärker von außen, auf kulinarische Verwöhnungen hin, als Reihung schöner Stellen, weniger von innen her und in der so wunderbaren wie bedrängenden Zwangsläufigkeit des Geschehens, hören; ob Sensibilitäten absterben, weil wir, im lauwarmen Wasser einer Beliebigkeitskultur paddelnd, uns nicht mehr mühen müssen. In Bezug auf Dringlichkeit und Intensität der Auseinandersetzung mit Kunst waren Notzeiten oft die besseren Zeiten. „Nur wenn sie Mühe machen, dauern die Werke“ (Brecht), „nur was wehtut, bleibt im Gedächtnis“ (Nietzsche).

Gewiss kommen Theorie und Kritik angesichts des Privilegs von Kunst, des Beieinanders von Ernst und Unterhaltung, Belehrung und Genuss, ratio und emotio allemal von außen. Indessen helfen sie, schrumpfende Selbstverständlichkeiten bewusst zu machen, den ins Kunstverständnis einsickernden Pragmatismus zu erkennen. Neben dem direkten Erlebnis betrifft das auch die Selbstverständlichkeit, mit der wir uns als Kulturnation begreifen und gefährliche Erosionen im Verhältnis zu einer nicht erschütterbaren Identität als marginal betrachten: das Abwracken von Orchestern in Baden-Württemberg; der einzigen musikalisch anspruchsvollen Radiowelle in Bayern; einer ganzen Ausbildungsrichtung und von mehr als 500 Orchesterstellen in Sachsen; die öffentliche Geschwätzigkeit von Halbzuständigen, die schwierigen Lösungen wie in Wuppertal schon schadet, bevor sie in den Prüfstand kommen; den Siegeszug der Einschaltquote nicht nur in den Medien, sondern in den Hirnen. Die Geschichte kennt den Kollaps von Kulturen, denen bestimmte Essentials so selbstverständlich geworden waren, dass sie als existentielle Garantien aus dem Blick gerieten und sich entsprechend rächten.

Mir liegt wenig an einer pessimistisch verdüsterten Coda – schon, weil jede Begegnung mit Kunst, jede Arbeit gerade auch mit jungen Musikern sie widerlegt. Dennoch bleibt mir im Ohr, was ich Thomas Mann bei der Weimarer Schiller-Rede im Jahr 1955 vom „Kulturschwund der unheimlichsten Art“, über eine „von Verdummung trunkene, verwahrloste Menschheit“ habe sagen hören. Gemessen an dem, was uns an Reichtümern und Möglichkeiten der Aneignung zur Verfügung steht, betreiben wir „selbstverschuldete Unmündigkeit“, „amüsieren uns“ vielleicht „zu Tode“. Der heute verliehene Preis möge bitte nie in den Geruch eines Alibis kommen.

Nunmehr verdächtig als einer, der es besser zu wissen meint, lenke ich abschließend zum persönlichen, direktesten Verhältnis zu Kunst und zum Schreiben über sie zurück. Welcher Interessierte hätte nicht erfahren, dass Betrachtungen eines Bildes, Gedichts oder Musikwerks Aug und Ohr schon bei simplen Details aus der Selbstverständlichkeit des zwar Bekannten, jedoch nicht Erkannten, des Gesehenen oder Gehörten, jedoch nicht eigentlich Wahrgenommenen herausgerissen, ihn hätten erschrecken lassen darob, wie blind die Augen, stumpf die Ohren, wie denk- und gefühlsfaul wir sein können. Allemal werden Worte, wenn sie in schwieriges Gelände vordringen, zu Sonden, sie erlegen uns Denkrichtungen, Denkzwänge auf, führen auf Erkenntnisse, die im Gegenüber mit der puren Phänomenalität der Werke kaum aufgeschienen wären. Wie ich beim Musizieren Dinge wahrnehme, die der theoretischen Beschäftigung entwischt sind, bin ich schreibend auf Dinge gekommen, die mir trotz oftmaligen praktischen Umgangs entgangen waren, habe Musik am Ende begründeter schön, noch schöner finden können, als ich sie ohnehin schon fand. Entgegen der immer neu aufscheinenden Divergenz von Wort und Ton blieb und bleibt es verlockend, das Schreiben über Musik als Fortsetzung des Musizierens mit anderen Mitteln zu erproben.