Hommage an Pierre-Laurent Aimard

Sehr geehrte Damen und Herren,

Ende Juni 2016 trat in meinem Land ein zwar wichtiges, aber trauriges Ereignis ein, ein Abschied, dessen Auswirkungen noch immer spürbar sind, und der mit einem Verlust verbunden war, den man auch in den kommenden Jahren noch bedauern wird. Selbstverständlich spreche ich hier über das Ende von Pierre-Laurent Aimards Amtszeit als künstlerischem Leiter des Aldeburgh-Festivals, eine Position, die er seit 2009 ungemein erfolgreich bekleidet hatte.

Die Wahl Pierre-Laurents zum Leiter des Festivals, das vor neunundsechzig Jahren durch den ersten Empfänger des Ernst von Siemens Musikpreises, Benjamin Britten, gegründet worden war, war in vielerlei Hinsicht überraschend. Aimard war der erste Nicht-Komponist als künstlerischer Leiter, obwohl selbstredend lebende Komponisten im Zentrum seines Programms standen – darunter Lachenmann, Birtwistle, Murail, Knussen und Carter (der als Hundertjähriger dort auftrat) ebenso wie zahlreiche jüngere Komponisten aus der ganzen Welt. Sein größter Coup bestand vielleicht darin, Pierre Boulez zu einem längeren Aufenthalt während des Jahres 2010 zu überreden, etwas, das zu einem früheren Zeitpunkt in der Geschichte des Festivals unwahrscheinlich gewesen wäre.

Doch das, wodurch Aimard das Festival während seiner Amtszeit besonders prägte, mehr als durch seine Fähigkeit, die kreativsten Persönlichkeiten der Welt nach East Anglia zu locken, mehr als durch den von ihm in jeder Hinsicht mit Urteilskraft und Originalität entworfenen Spielplan, waren seine eigenen Auftritte. Der Inhalt seiner Klavierabende war typischerweise vielfältig und experimentierfreudig – er stellte Bach, Scarlatti, Mozart, Beethoven, Schubert und Schumann neben Debussy, Strawinsky, Scrjabin, Janáček, Bartók, Schönberg und Webern, zusammen mit Stockhausen und Kurtág oder Stroppa und Anderson, alle mit derselben Fantasie, Sympathie und Generosität des Geistes gespielt. Ein Höhepunkt seines letzten Jahres war die vollständige Aufführung von Messiaens Mammutwerk Catalogue d’oiseaux, das sich über vierundzwanzig Stunden erstreckt und in dem jeder der dreizehn Sätze exakt die Tageszeit umfasst, während der der im Werk beschriebene Vogelgesang in der Natur stattfindet. So wurden die wenigen Eröffnungssätze um vier Uhr morgens in der Landschaft von Suffolk gespielt. Wie durch ein Wunder klarte der Himmel East Anglias zur erforderlichen Stunde auf und die aufgehende Sonne tauchte das Publikum in ihr Licht, exakt gleichzeitig mit den irisierenden Morgendämmerungsharmonien und Vogelrufen Messiaens ...

Aber man muss sich die Frage stellen: Was macht es einem Pianisten – ich wiederhole, nicht einem Komponisten – und überdies einem französischen Pianisten möglich, ein britisches Festivalpublikum in einem solchen Maß zu gewinnen, dass es in aller Frühe, um 3 Uhr morgens, sein Bett verlässt, um im Freien ein anspruchsvolles Meisterwerk moderner Klavierliteratur anzuhören?

Nun, an erster Stelle sind da natürlich die Finger. Sie scheinen zu allem in der Lage zu sein. Neben anderen ist es ebendiese Facette, die unzählige Komponisten – und am bekanntesten unter ihnen Ligeti – angezogen hat, um für ihn zu schreiben. Unser Pianist wurde zum engen Freund des ungarischen Komponisten und während seiner letzten Lebensjahrzehnte zu seinem wichtigsten Repräsentanten und ich frage mich manchmal, ob ohne Aimard auch nur die Hälfte seiner berühmten Etüden geschrieben worden wären. Phänomenale Fingerfertigkeit, atemberaubende Genauigkeit, spektakuläre Kontrolle des Anschlags, unendliche Abstufungen in der Dynamik, höchste rhythmische Präzision und, wenn erforderlich, gewaltige Kraft – in diesen Fähigkeiten fand Ligeti seinen idealen Interpreten, jemanden, der die intrikaten und magischen Illusionen, die er mit seiner Musik herbeizaubern wollte, zum Leben erwecken konnte.

Aber Pierre-Laurent ist auch ein denkender Musiker: Sein Geist durchdringt und beflügelt sein Spiel. Nicht alle praktizierenden Musiker sind Intellektuelle, und in der Tat kann philosophische Spekulation gelegentlich die Spontaneität und den Elan, die von einem Künstler verlangt werden, behindern. Doch Aimards musikalische Kultiviertheit ist breit gefächert und tiefgründig und zu seiner Ausbildung und Entwicklung als Musiker haben viele verschiedene Einflüsse beigetragen. Nach anfänglichen Studien in Lyon, Paris und London und über die Begegnungen und Zusammenarbeit mit vielen wichtigen Nachkriegskomponisten hinaus, hat Pierre-Laurent tiefe Wurzeln – sowohl musikalische als auch andere – in Osteuropa: besonders in Ungarn, Russland und Jugoslawien. Die Freundschaft mit Alfred Brendel hat ihn sicher ebenfalls erheblich beeinflusst. Heute ist sein Spiel dem Publikum in Budapest ebenso vertraut wie dem in Brüssel, London oder Luzern, Badenweiler oder Barcelona. Er hat in Köln viele Generationen von Studenten unterrichtet und Berlin zu seiner Heimat gemacht. Damit ist er eine echt europäische Figur, eine Figur, deren Persona und deren Kunst sich aus allen Himmelsrichtungen des Kontinents speist.

Was Pierre-Laurent ganz besonders anzieht, ist die Analyse; nichts beschäftigt ihn mehr als die Untersuchung der Mittel, sowohl der technischen wie der ästhetischen, mit deren Hilfe große Werke gestaltet werden. Bei der Erörterung zum Beispiel von verborgenen Techniken des Kontrapunktes bei Bach oder labyrinthischen seriellen Manipulationen bei Berg, würde er sich vollkommen heimisch fühlen, und über Konzepte der musikalischen Form und des musikalischen Diskurses, über Stil und Ausdruck, über Phrasierung und Artikulation hat er gründlich nachgedacht. Als Katalysator in dieser Hinsicht ist vermutlich eine einzige, ganz bestimmte Person, nämlich Pierre Boulez, aufgetreten, dessen Musik und Persönlichkeit Aimard seit seiner Kindheit verehrte. Boulez’ außergewöhnliche Klarheit des Geistes und des Ohres, seine Skepsis und kritische Brillanz, sein analytischer Eifer und außerdem seine breite Vorstellungskraft und Sensibilität sowohl als Schöpfer von Musik wie als Interpret – diese Attribute haben Pierre-Laurent immer wie von Zauberhand angezogen. Sie reichen an den Kern seiner Existenz und durchdringen auch heute noch alles, was er tut.

Aber was Pierre-Laurent ausmacht, ist mehr als die Verbindung zwischen seiner Intelligenz und den außerordentlichen zehn Fingern. Es ist der Klang, den er erzeugt. Man muss daran erinnern, dass er bereits im Alter von dreizehn Jahren ein Anhänger von Olivier Messiaen war, einem Musikschöpfer, der den Klang – den eigentlichen Stoff der Musik – mit einer Art mystischen Staunens betrachtete. Man kann sich vorstellen, welchen Einfluss die ekstatische musikalische Vision von Messiaen – ebenso wie der hingebungsvolle Unterricht seiner Frau, Yvonne Loriod, – auf den jungen Pianisten hatte, der eben erst am Anfang des Teenageralters stand.

Die Folge war, dass Aimard ein äußerst scharfes Gehör entwickelte und eine hohe Empfindlichkeit für die physikalische Wirklichkeit pianistischen Wohlklangs. Die geringsten Details der Konstruktion von Instrumenten faszinieren ihn – von den Tasten bis zum Filz, den Dämpfern bis zu den Hämmern, vom Resonanzboden bis zu den Deckeln –, ohne selbstverständlich die Akustik, die Dimensionen, Luftfeuchtigkeit und Temperatur der Säle zu vergessen, in denen er spielt und aufnimmt. Durch seinen idiosynkratischen und ausgefeilten Anschlag ebenso wie durch seine beachtliche, subtile Geschicklichkeit beim Einsatz der Pedale hat er zusätzliche Wege gefunden, welche den Klang der Klaviersaiten aufblühen lassen wie bei niemand anderem. Als ich mit ihm Ravels G-Dur Klavierkonzert aufführte, hätte ich schwören können, dass in der ausgedehnten Soloeinführung des langsamen Satzes die Melodie von den Zwölf Cellisten der Berliner Philharmoniker gespielt wurde und nicht von einem perfekt gestimmten, ausbalancierten und ideal positionierten Steinway!

Doch ich kann, glaube ich, noch einen Schritt weiter in das eindringen, was Pierre-Laurent zu einem so überzeugenden Musiker macht. Schließlich ist er jemand, dem ich bereits im Jahr 1976 am Pariser Konservatorium begegnet bin und der, unglaublich, seit vierzig Jahren mein Freund ist.

Man könnte sich vorstellen, dass bei jemandem, der im Alter von sechzehn Jahren einen angesehenen internationalen Klavierwettbewerb gewonnen hat, die Karriere entlang vorhersagbarer Linien verlaufen würde – dass er mühelos einen einflussreichen Agenten und einen Schallplattenvertrag (es waren die siebziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts!) bekommen würde, verbunden mit Einladungen zu unzähligen Aufführungen und Konzerten von international führenden Konzertsälen und Orchestern. Doch nein, stattdessen nimmt Aimard eine Einladung von Pierre Boulez an, sich dem neuen Ensemble intercontemporain anzuschließen, und bleibt dort – als Ensemblemusiker – zwei Jahrzehnte lang.

Sicher war mit dieser Rolle viel Ruhm verbunden und das Repertoire war vielfältig und unendlich stimulierend. Trotzdem schloss die wöchentliche Routine vermutlich auch das endlose Dröhnen der neuesten Synthesizer aus den achtziger Jahren und die Ausführung schlecht notierter Celestafigurationen von unerfahrenen (und nicht notwendig kompetenten) jungen Komponisten ein. Und angesichts so vieler neuer zur Uraufführung gebrachter Werke – von Berühmtheiten wie Xenakis, Grisey, Berio und Boulez selbst – war vermutlich die Zeit zu beschränkt, um Beethoven-Zyklen oder längere Solotourneen im Ausland vorzubereiten, geschweige denn durchzuführen. Zudem gab es manchmal, bedauerlicherweise, das irrige Vorurteil, dass ein Künstler, der sich in neuer Musik auszeichnet, automatisch suspekt ist, wenn es um das Kernrepertoire geht.

Aber warum macht man das am Beginn einer Karriere und über so lange Zeit? Es ist ganz einfach. Pierre-Laurent ist neugierig und experimentierfreudig. Er will an der beständigen Reise der westlichen Musik an vorderster Front teilnehmen. Er ist kompromisslos loyal und war der modernen Musik und der Idee des zeitgenössischen Komponisten von Anfang an treu ergeben. Diese keineswegs universalen Attribute haben bei Pierre-Laurent in ihrer Intensität nie nachgelassen. Einfach formuliert heißt das, er hat ein glühendes Bedürfnis, der Musik als einer lebendigen Kraft zu dienen.

Fügt dies seinem Weg als Musiker eine ethische Dimension hinzu? Ich möchte darüber nicht urteilen, doch ich bin mir sicher, dass seine Integrität und die Überzeugungen, die sie unterfangen, in jedem Aspekt seines Spiels offenkundig sind und sich seinen Zuhörern unmittelbar mitteilen – ohne jede Form von Befangenheit oder Barriere. Dieser Wurzel entstammt die einzigartige Leidenschaft und Autorität seines Spiels.

Eins ist sicher: In den zurückliegenden Dekaden hat niemand auf der Welt einen größeren Einfluss auf die Natur der Klavierliteratur und die Verbreitung moderner Musik für Tasteninstrumente gehabt als Aimard. In dieser Hinsicht ist er eine historische Figur – und dieses glanzvollen Preises zutiefst würdig. Aber der Pierre-Laurent, den ich kenne, ist auch eine Persönlichkeit von großer Höflichkeit und untadeliger Bescheidenheit, darum bringe ich ihn hier wahrscheinlich in heftige Verlegenheit. Und um ihm diese zu ersparen, werde ich einfach mit den folgenden wenigen Worten schließen: Félicitations, bien cher ami, et merci.

Übersetzung aus dem Englischen von Wiebke Meier

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