Ulrich Alexander Kreppein

Erinnerung und Vielstimmigkeit

Einem Wort Theodor W. Adornos zufolge ist es Robert Schumann gewesen, der für die Musik den Gestus des sich Erinnerns und Zurückschauens entdeckt hat. In seinen Werken wächst der Gegenwartskunst par excellence erstmals eine Vergangenheitsperspektive zu; sie bleibt nicht reine, emphatische Präsenz, nur an den Augenblick ihres Erklingens gebunden, sondern reflektiert in den stärksten Momenten ihre spezifische Zeitlichkeit: sie beschwört die eigene Vergänglichkeit, indem sie auf Vergangenes verweist.

Solche Selbstreflexivität hat man mit Recht als ein Kennzeichen der ästhetischen Moderne identifiziert, und genau hier, in den intellektuellen Potentialen einer nicht trivialisierten Romantik, liegt auch ein Faszinationskern für das Komponieren Ulrich Alexander Kreppeins. Seine Musik sucht das Uneigentliche, das Mehransichtige und sich selbst Konterkarierende, sie spricht mit unterschiedlichen Stimmen und, intermittierend, aus verschiedenen zeitlichen Fernen heraus. So erklingt im ersten der drei Phantasiestücke, einem Streichtrio mit dem (einem späten Gedichtentwurf Rilkes entlehnten) Titel Windinnres, mehrfach eine Bratschenkantilene von vogelhafter Unstetheit, die bei ihrem letzten Auftreten, ehe sie sich multipliziert und auf das gesamte Ensemble übergreift, hinter einem mikrotonal verwischten, aber durchaus tonalen Klangband der Außenstimmen hervorleuchtet. Die zuvor etablierte Hierarchie von Haupt- und Nebensachen, von Vorder- und Hintergrund wird hier umgestülpt, der wie aus Tiefen der Erinnerung heraufziehende ‚alte‘ Ton überlagert die Gegenwart der beredten Linie.

Es entspricht dieser ästhetischen Option, dass einsinnig final gerichtete Prozesse, ein restriktiver Materialbegriff und die universale Integration von Motiven und Gestalten nicht Kreppeins Sache sind. Ihm ist es vielmehr um eine Pluralität im emphatischen Sinne zu tun, er favorisiert nichtlineare Verläufe und eine Vielstimmigkeit der Klang- und Sprachformen, die das Disparate – im Sinne einer ‚höheren Polyphonie‘ – weniger fürchtet als den Verlust des Poetischen. Zu dieser Vielstimmigkeit gehört auch die nachdrückliche Bezugnahme auf literarische Motive und Texte – das bezeugen schon die Werktitel mit ihrer Affinität zu Zwielicht, Nacht und Schatten. Aber auch die Kompositionen selbst werfen ein Netz sprachlicher und motivischer Bezüge aus: In der Orchesterskizze Schattenspiele von 2008 – sie rekurriert auf Ideen, die in kammermusikalischer Form auch im dritten der Phantasiestücke, „Abendlied“, verwendet werden – finden sich, im Klang vergraben und selbst schon zu Klang geworden, gewisperte Textfragmente aus einem Gedicht Georg Heyms; das zweite der Phantasiestücke, „Nachtschattenwirbel“, birgt in seinem Untergrund Zitate aus Hans Henny Jahnns Die Nacht aus Blei und integriert daneben auch das Geräusch indistinkter Radiostimmen. Das Ziel all solcher Strategien ist jedoch nicht Tiefsinn, sondern die Produktion von Präsenz; Ulrich Alexander Kreppeins Musik sucht in der Vielfalt ihrer Sprachebenen den emphatischen Zugriff auf die Welt mittels einer mit jedem Werk neu zu etablierenden Beredsamkeit.

Markus Böggemann